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Middlesex

Middlesex

Titel: Middlesex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffrey Eugenides
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Expertenmeinung der Gehirnchemie und der Evolution zu. Dennoch muss ich betonen: Für Desdemona fühlte sich Peripheszenz an wie ein See aus Wärme, der, ausgehend von ihrem Unterleib, ihren Brustkorb überschwemmte. Er breitete sich aus wie die neunzigprozentige feurige Flut eines minzgrünen finnischen Likörs. Unter dem Pumpen zweier effizienter Drüsen in ihrem Hals erhitzte er ihr Gesicht. Und dann kam die Wärme auf andere Ideen und begann, sich an Stellen auszubreiten, wo ein Mädchen wie Desdemona sie nicht hinließ, und sie wandte den Blick ab und drehte sich weg. Sie trat ans Fenster, ließ die Peripheszenz hinter sich, und die Brise aus dem Tal kühlte sie.
    »Ich werde mit den Eltern der Mädchen sprechen«, sagte sie und bemühte sich, wie ihre Mutter zu klingen. »Dann musst du ihnen den Hof machen.«
    In der darauffolgenden Nacht war der Mond, wie auf der künftigen Flagge der Türkei, eine Sichel. In Bursa schnorrten sich die griechischen Truppen ihr Essen zusammen, zechten und jagten noch eine Moschee in die Luft. In Angora ließ Mustafa Kemal in die Zeitung setzen, er werde in Chankaya einen Tee-Empfang geben, während er in Wahrheit zu seinem Hauptquartier im Felde aufgebrochen war. Mit seinen Männern trank er den letzten Raki, den er sich genehmigen würde, bis die Schlacht vorüber wäre. Im Schutz der Nacht zogen die türkischen Truppen nicht nach Norden Richtung Eskisehir, wie jeder erwartete, sondern zu der stark befestigten Stadt Afyon im Süden. In Eskisehir entzündeten türkische Truppen Lagerfeuer, um Stärke vorzutäuschen. Eine kleine Unterabteilung rückte zum Schein nach Norden Richtung Bursa vor. Und inmitten dieser Aufmärsche trat Lefty Stephanides, zwei Korsagen im Arm, aus der Tür seines Hauses und machte sich auf den Weg zu dem Haus, in dem Victoria Pappas wohnte.
    Es war ein Ereignis von der Bedeutung einer Geburt oder eines Todesfalls. Jeder der nahezu hundert Einwohner von Bithynios hatte von Leftys bevorstehenden Besuchen gehört, und die alten Witwen, die verheirateten Frauen und die jungen Mütter wie auch die alten Männer warteten gespannt, welches Mädchen er wohl wählen würde. Da die Bevölkerungszahl so klein war, gab es die alten Werbungsriten meist nicht mehr. Dieser Mangel an Gelegenheit in Liebesdingen hatte einen Teufelskreis geschaffen. Niemand zum Lieben: keine Liebe. Keine Liebe: keine Babys. Keine Babys: niemand zum Lieben.
    Victoria Pappas stand halb im Licht und halb im Schatten; das Schattenspiel auf ihrem Körper entsprach exakt dem auf der Fotografie auf Seite 8 von Lingerie Parisienné. Desdemona (Kostümbildnerin, Inspizientin und Regisseurin in einem) hatte Victoria die Haare hochgesteckt, ihr Löckchen in die Stirn fallen lassen und ihr eingebläut, ihre nicht eben kleine Nase im Dunkeln zu lassen. Parfümiert, enthaart, wundsalbenfeucht, die Augen mit Kajal geschminkt, ließ Victoria sich von Lefty ansehen. Sie spürte die Hitze seines Blicks, hörte seinen schweren Atem, hörte, wie er zweimal zu sprechen ansetzte kleine Quiekser aus trockener Kehle -, und dann hörte sie seine Füße auf sie zukommen, worauf sie sich umwandte und das Gesicht machte, das Desdemona sie zu machen gelehrt hatte; doch abgelenkt von der Anstrengung, die Lippen wie ein französisches Dessousmodell aufzuwerfen, merkte sie nicht, dass die Schritte nicht etwa näher kamen, sondern sich entfernten, und als sie sich wieder umdrehte, stellte sie fest, dass Lefty Stephanides, der einzige in Frage kommende Junggeselle im Dorf, sich davongestohlen hatte...
    ... Unterdessen öffnete Desdemona zu Hause ihre Aussteuerkiste. Sie griff hinein und zog ihr eigenes Korsett heraus. Ihre Mutter hatte es ihr Jahre zuvor, ihre Hochzeitsnacht vorwegnehmend, mit den Worten geschenkt:
    »Ich hoffe, eines Tages füllst du das aus.« Nun hielt sich Desdemona vor dem Schlafzimmerspiegel das eigentümliche, komplizierte Kleidungsstück an. Herunter mit den Kniestrümpfen, ihrer grauen Unterwäsche. Fort mit dem hoch taillierten Rock, dem hochgeschlossenen Kasack. Sie schüttelte ihr Kopftuch ab und löste die Haare, sodass sie ihr über die nackten Schultern fielen. Das Korsett war aus weißer Seide. Als sie es anlegte, war Desdemona, als spönne sie ihren eigenen Kokon, in Erwartung der Metamorphose.
    Doch als sie wieder in den Spiegel schaute, hielt sie inne. Es war sinnlos. Sie würde nie heiraten. Lefty würde am Abend zurückkehren und sich eine Braut gewählt haben, und bald würde er sie

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