Middlesex
würde Kinder haben und nicht mehr nach Bursa gehen, und ganz allmählich würde er sich verändern; er würde älter werden; alles, was er jetzt empfand, würde in die Erinnerung sickern und dann ins Nichts. Er nickte; er zog den Hut fester auf den Kopf.
In Bithynios gab Desdemona den beiden Anfängerinnen Unterricht in feiner Lebensart. Noch während Lefty sich im Gasthaus zum Kokon ausschlief, lud sie Lucille Kafkaiis und Victoria Pappas zu sich ein. Die Mädchen waren jünger als Desdemona und lebten noch zu Hause bei den Eltern. Sie schauten zu Desdemona als der Herrin ihres eigenen Hauses auf. Neidisch auf ihre Schönheit, warfen sie ihr bewundernde Blicke zu, geschmeichelt ob all der Aufmerksamkeiten, vertrauten sie sich ihr an, und als sie ihnen Ratschläge zu ihrem Äußeren zu geben begann, hörten sie ihr zu. Lucille empfahl sie, sie solle sich regelmäßiger waschen, und schlug Essig unter den Armen als Deodorant vor. Victoria schickte sie zu einer Türkin, deren Spezialität es war, unerwünschte Haare zu entfernen. Im Verlauf der folgenden Woche lehrte Des demona die Mädchen alles, was sie sich aus der einzigen Schönheitszeitschrift angeeignet hatte, die sie je gesehen hatte, einem abgegriffenen Katalog mit dem Titel Lingerie Parisienne. Der Katalog hatte ihrem Vater gehört. Er enthielt zweiunddreißig Seiten Fotografien von Modellen mit Büstenhaltern, Korsetts, Hüftgürteln und Strümpfen. Nachts, wenn alles schlief, hatte ihr Vater ihn immer aus der untersten Schublade seines Schreibtischs herausgenommen. Jetzt studierte Desdemona ihn heimlich« prägte sich die Bilder ein, damit sie sie später nachbilden konnte. Sie forderte Lucille und Victoria auf, jeden Nachmittag vorbeizukommen. Sie gingen ins Haus, hüftenschwingend, wie es ihnen beigebracht worden war, und schritten durch die Traubenlaube, in der Lefty gerne las. Jedes Mal trugen sie ein anderes Kleid. Auch Frisur, Gang, Schmuck und Eigenheiten variierten sie- Unter Desdemonas Anleitung vervielfältigten sich die beiden graubraunen Mädchen zu einer kleinen Stadt der Frauen, jede mit einem kennzeichnenden Lachen, einem unverwechselbaren Edelstein, ein Lieblingslied summend. Nach zwei Wochen ging Desdemona eines Nachmittags zum Laubengang und fragte ihren Bruder: »Was tust du hier? Warum bist du nicht in Bursa? Ich dachte, du hast inzwischen ein nettes türkisches Mädchen zum Heiraten gefunden. Oder haben sie alle einen Schnurrbart wie Victoria?«
»Komisch, dass du davon sprichst«, sagte Lefty. »Ist es dir auch aufgefallen? Vicky hat gar keinen Schnurrbart mehr. Und weißt du, was noch?« - Er stand lächelnd auf. »Lucille riecht allmählich sogar ganz annehmbar. Immer wenn sie vorbeikommt, rieche ich Blumen.« (Das war natürlich gelogen. Keine der beiden Mädchen roch oder sah für ihn reizvoller aus als vorher. Seine Begeisterung war nur Ausdruck seines Entschlusses, sich dem Unvermeidlichen zu fügen: einer arrangierten Ehe, Häuslichkeit) Kindern - der absoluten Katastrophe eben.) Er trat nahe an Desdemona heran. »Du hattest Recht«, sagte er. »Die schönsten Mädchen auf der Welt sind hier in diesem Dorf.«
Scheu blickte sie ihm in die Augen. »Findest du?«
»Manchmal merkt man gar nicht, was man direkt vor der Nase hat.«
Während sie so dastanden und einander ansahen, wurde Desdemona wieder ganz seltsam zumute. Und um Ihnen diese Empfindung zu erklären, muss ich Ihnen eine weitere Geschichte erzählen. In seiner Ansprache als Präsident der Gesellschaft für die wissenschaftliche Erforschung der Sexualität anlässlich der Jahrestagung 1968 (in jenem Jahr abgehalten unter vielen anzüglichen piñatas in Mazatlán) stellte Dr. Luce den Begriff »Peripheszenz« vor. Das Wort als solches bedeutet nichts; Luce hatte es sich ausgedacht, um jedweden etymologischen Assoziationen den Boden zu entziehen. Der Zustand der Peripheszenz dagegen ist wohlbekannt. Er bezeichnet das erste fieberhafte Erregtsein im Zuge der menschlichen Paarbindung. Es verursacht Schwindelgefühl, Hochstimmung, ein Kribbeln an der Brustwand, den Impuls, am Seil, das aus dem Haar der Geliebten geflochten ist, auf einen Balkon zu klettern. Peripheszenz bezeichnet das anfängliche Von-Sinnen-Sein und Glück im Bett, wenn man stundenlang an der Geliebten wie an duftendem Mohn schnüffelt. (Es hält, erklärte Luce, bis zu zwei Jahre an - höchstens.) Die alten Griechen hätten das, was Desdemona empfand, auf Eros zurückgeführt. Heute schreibt es die
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