Middlesex
Spiegelbild meidend, strebte ich direkt zu den Kabinen. Es waren drei, ich wählte die mittlere. Wie die anderen war auch sie aus Marmor. Grauer Neuengland-Marmor, fünf Zentimeter dick, im neunzehnten Jahrhundert abgebaut und mit Millionen Jahre alten Fossilien durchsetzt. Ich schloss die Tür und verriegelte sie. Ich zog ein Safe-T-Guard aus dem Spender und legte es über die Toilettenbrille. Vor Keimen geschützt, zog ich die Unterhose herunter, hob den Kilt und setzte mich hin. Sogleich spürte ich, wie mein Körper sich entspannte, mein steifer Rücken sich lockerte. Ich strich mir die Haare aus dem Gesicht, damit ich etwas sehen konnte. Vor mir waren kleine farnförmige Fossilien und andere, die Skorpionen ähnelten und sich selbst totstachen. Der Toilettensitz hatte unter meinen Beinen einen Rostfleck, auch er steinalt.
Die Souterraintoilette war das Gegenstück zu unserem Umkleideraum. Die Kabinenwände waren zwei Meter hoch und reichten bis auf den Fußboden. Fossilierter Marmor verbarg mich sogar noch besser als mein Haar. In der Souterraintoilette herrschte ein Zeittakt, der mir viel mehr behagte, nicht das Gehetze der Schule oben, sondern das langsame, evolutionäre Fortschreiten der Erde, ihres Pflanzen- und Tierlebens, das sich aus dem fruchtbaren Urschlamm bildet. Die Hähne tropften in der langsamen, unerbittlichen Bewegung der Zeit, und da unten war ich allein und sicher. Sicher vor meinen wirren Gefühlen für das obskure Objekt, sicher auch vor den Gesprächsfetzen, die ich aus dem Schlafzimmer meiner Eltern mitbekommen hatte. Erst am Abend davor war Miltons aufgebrachte Stimme an meine Ohren gedrungen: »Du hast noch Kopfschmerzen? Herrgott, dann nimm ein Aspirin.« - »Hab ich schon«, antwortete meine Mutter. »Nichts hilft.« Dann der Name meines Bruders, woraufhin mein Vater etwas brummelte, was ich nicht verstand. Dann Tessie: »Über Callie mache ich mir auch Sorgen. Sie hat immer noch nicht ihre Periode.« - »Mensch, sie ist doch erst dreizehn.« - »Sie ist vierzehn. Und sieh doch, wie groß sie ist. Ich glaube, da stimmt was nicht.« Eine Weile Stille, bevor mein Vater fragte: »Was meint Dr. Phil dazu?« - »Dr. Phil! Der meint gar nichts. Ich möchte mit ihr zu einem anderen gehen.«
Das Summen der Stimmen meiner Eltern hinter meiner Zimmerwand, das mich meine ganze Kindheit hindurch mit einem Gefühl der Sicherheit erfüllt hatte, wurde nun zu einer Quelle von Unruhe und Furcht. Also tauschte ich sie gegen die Marmorwand, von der nur das Geräusch des tropfenden Wassers widerhallte, das Geräusch meiner Toilettenspülung oder meiner Stimme, die leise die Ilias las.
Und wenn ich keine Lust mehr auf Homer hatte, las ich die Wände.
Das war auch ein Argument für die Souterraintoilette. Sie war über und über mit Graffiti bedeckt. Oben zeigten Klassenfotos Reihen um Reihen Schülerinnengesichter. Hier unten waren es hauptsächlich Körper. Mit blauer Tinte gezeichnet, gab es kleine Männchen mit gigantischen Geschlechtsteilen. Und Frauen mit riesigen Brüsten. Auch verschiedene Permutationen: Männer mit niedlichem Penis, auch Frauen mit Penis. Es war ein Unterricht in beidem, dem, was war, und dem, was sein könnte. Auf dem grauen Marmor neue, fahrige Kritzeleien von Körpern, die alles Mögliche machten - denen Teile wuchsen, die zusammenpassten, die die Form veränderten. Dazu auch Witze, kluge Ratschläge, Geständnisse. An einer Stelle: »Ich liebe Sex.« An einer anderen: »Patty C. ist eine Schlampe.« Wo sonst würde sich ein Mädchen wie ich, das vor der Welt ein Wissen verbarg, das es selbst nicht ganz verstand - wo sonst würde es sich wohler fühlen als in diesem unterirdischen Reich, in dem Leute niederschrieben, was sie nicht sagen konnten, in dem sie ihrem schändlichsten Sehnen und Wissen Ausdruck verliehen?
Denn in jenem Frühling, als die Krokusse blühten, als die Schuldirektorin Narzissenknollen in die Blumenbeete setzte, spürte auch Calliope etwas knospen. Ein ganz eigenes obskures Objekt, das zusätzlich zu dem Bedürfnis nach Alleinsein dafür verantwortlich war, dass sie in die Souterraintoilette ging. Eine Art Krokus auch dies, und zwar kurz vor der Blüte. Ein pink-farbener Stängel, der sich durch dunkles, frisches Moos drückte. Wahrlich eine seltsame Blume, weil sie eine ganze Reihe von Jahreszeiten an einem einzigen Tag durchlief. Sie hatte ihren ruhenden Winter, wo sie unterirdisch schlief. Fünf Minuten später regte sie sich in einem
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