Middlesex
höchstpersönlichen Frühling. Wenn ich, ein Buch auf dem Schoß, im Unterricht saß oder mit der Fahrgemeinschaft nach Hause fuhr, spürte ich ein Tauen zwischen meinen Beinen, das Erdreich wurde feucht, ein sattes, torfiges Aroma stieg auf, und dann - ich versuchte gerade, lateinische Verben zu memorieren - das jähe, sich bäumende Leben in der warmen Erde unter meinem Rock. Manchmal fühlte sich der Krokus weich und glitschig an, wie das Fleisch eines Wurms. Ein andermal war er wieder hart wie eine Wurzel.
Wie fand Calliope ihren Krokus? Das ist das, was am leichtesten und zugleich am schwierigsten zu erklären ist. Einerseits gefiel er ihr. Wenn sie die Ecke eines Übungsbuchs dagegen drückte, meldete sich ein angenehmes Gefühl. Das war nichts Neues. Es hatte sich immer schön angefühlt, dort Druck auszuüben. Schließlich war der Krokus ja Teil ihres Körpers. Es gab keinen Grund, Fragen zu stellen.
Aber es gab Zeiten, da spürte ich, dass an meiner körperlichen Beschaffenheit etwas anders war. Im Camp Ponshewaing hatte ich an schwülen Barackenabenden von den Fahrradsätteln und Zaunpfählen erfahren, die meine Klassenkameradinnen schon im zarten Alter verführt hatten. Lizzie Barton erzählte uns, während sie an einem Stock einen Marshmallow röstete, wie sie den Huckel eines Pferdesattels liebgewonnen habe. Margaret Thomson war das erste Mädchen der Stadt, deren Eltern einen Massageduschkopf besaßen. Diesen klinischen Geschichten fügte ich meine eigenen Sinneswahrnehmungen hinzu (es war das Jahr, in dem ich mich in Turnseile verliebte), aber zwischen den Regungen, von denen meine Freundinnen berichteten, und der krampfen den Ekstase meiner trockenen Spasmen war doch eine vage, undefinierbare Kluft. Manchmal, wenn ich von meiner oberen Liege des Etagenbetts in den Strahl einer Taschenlampe hing, schloss ich meine kleine Enthüllung mit einem »Kennt ihr das?« ab. Und dann nickten in der Düsternis drei, vier dünnhaarige Mädchen, ein einziges Mal, und bissen sich schräg auf die Lippe und schauten weg. Sie kannten es nicht.
Zuweilen machte ich mir Sorgen, dass mein Krokus eine zu komplexe Blüte war, keine gemeine winterharte Pflanze, sondern eine Treibhausblume, eine Hybride, die wie eine Rose nach ihrem Züchter benannt wurde. Irisierende Hellenin. Blasser Olymp. Griechisches Feuer. Aber halt - das war nicht fair. Mein Krokus war nicht da, um Eindruck zu schinden. Er wuchs doch noch und konnte sich entwickeln, sofern ich nur geduldig wartete. Vielleicht war das ja bei jeder so. Bis dahin war es am besten, das Ganze geheim zu halten. Und das tat ich dort im Souterrain.
Eine weitere Tradition an der Baker & Inglis: Jedes Jahr führte die achte Klasse ein klassisches griechisches Stück auf. Ursprünglich hatte das immer in der Aula der Middle School stattgefunden. Aber nachdem Mr. da Silva nach Griechenland gereist war, kam er auf die Idee, den Hockeyplatz in ein Theater umzuwandeln. Mit der Tribüne in der Senke und der natürlichen Akustik war er ein perfektes Mini-Epidaurus. Die Leute von der Verwaltung trugen Setzstufen heraus und errichteten die Bühne auf dem Rasen.
Im Jahr meiner Vernarrtheit in das obskure Objekt wählte Mr. da Silva als Stück Antigone. Es gab keine Vorsprechproben. Mr. da Silva besetzte die Hauptrollen mit seinen Lieblingen aus dem Kurs Fortgeschrittenes Englisch. Alle anderen steckte er in den Chor. Die Besetzungsliste las sich also wie folgt: Joanne Maria Barbara Peracchio als Kreon, Tina Kubek als Eurydike, Maxine Grossinger als Ismene. Die Rolle der Antigone selbst die einzig denkbare Wahl, selbst von einem körperlichen Standpunkt aus -bekam das obskure Objekt. Im Halbjahreszeugnis hatte sie nur eine Drei minus. Trotzdem wusste Mr. da Silva, dass sie der geborene Star war.
»Diesen ganzen Text müssen wir lernen?«, fragte Joanne Maria Barbara Peracchio bei der ersten Probe. »In zwei Wochen?«
»Lernt, was ihr könnt«, sagte Mr. da Silva. »Jede wird ein weites Gewand tragen. Darunter könnt ihr dann das Buch verstecken. Und Miss Eagles macht die Souffleuse. Sie wird im Orchestergraben sein.«
»Ein Orchester haben wir auch?«, wollte Maxine Grossinger wissen.
»Das Orchester«, sagte Mr. da Silva und zeigte auf seine Flöte, »bin ich.«
»Hoffentlich regnet's nicht«, sagte das Objekt.
»Wird es am übernächsten Freitag regnen?«, sagte Mr. da Silva. »Fragen wir doch unseren Teiresias.« Und wandte sich an mich.
Haben Sie jemand anderes erwartet?
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