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Middlesex

Middlesex

Titel: Middlesex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffrey Eugenides
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Nein, denn wenn das obskure Objekt die Idealbesetzung für die rächende Schwester war, dann war ich die aussichtsreichste Kandidatin für die Rolle des alten, blinden Propheten. Meine wilden Haare suggerierten Hellsicht. Mein Buckel ließ mich gebrechlich erscheinen. Meine halb veränderte Stimme hatte etwas Geisterhaftes, Genialisches. Natürlich war auch Teiresias eine Frau gewesen. Aber das wusste ich damals noch nicht. Und im Text stand es auch nicht.
    Es war mir egal, welche Rolle ich spielte. Wichtig war nur, dass ich dem obskuren Objekt nun nahe sein konnte, an etwas anderes dachte ich nicht. Nicht nahe wie im Unterricht, wo es unmöglich war, etwas zu sagen. Nicht nahe wie im Speisesaal, wo sie auf einen anderen Tisch Milch spuckte. Sondern so nahe, wie man sich bei Proben für ein Schulstück eben kam mit all der Warterei, die das mit sich brachte, all der Vertrautheit hinter der Bühne, all der angespannten, befrachteten, flatterigen, emotionalen Hemmungslosigkeit, die daher rührte, dass man eine andere Identität annahm.
    »Ich finde nicht, dass wir es mit Textbuch machen sollten«, erklärte jetzt das obskure Objekt. Sie war sehr professionell zur Probe erschienen, hatte ihren ganzen Text gelb markiert. Ihren Pullover hatte sie sich wie einen Umhang um die Schultern gebunden. »Ich finde, wir sollten alle unseren Text auswendig können.« Sie blickte von einem Gesicht zum andern. »Sonst wäre es zu unglaubwürdig.«
    Mr. da Silva lächelte. Den Text auswendig zu lernen würde dem Objekt erhebliche Mühen abverlangen. Eine neuartige Aufgabe. »Antigone hat bei weitem den meisten Text«, sagte er. »Wenn Antigone es also ohne Buch machen will, dann, denke ich, sollten es auch die anderen ohne Buch machen.«
    Die anderen Mädchen stöhnten. Teiresias aber, der schon eine Vision von der Zukunft hatte, wandte sich an das Objekt.
    »Ich gehe mit dir deinen Text durch. Wenn du magst.«
    Die Zukunft. Sie geschah bereits. Das Objekt sah mich an. Die Nickhäute hoben sich. »Na gut«, sagte sie kühl.
    Wir verabredeten uns für den nächsten Tag, einen Dienstagabend. Das obskure Objekt schrieb mir ihre Adresse auf, und Tessie setzte mich vor dem Haus ab. Als ich in die Bibliothek geführt wurde, saß sie auf einem grünen Samtsofa. Ihre Halbschuhe hatte sie ausgezogen, aber die Uniform hatte sie noch an. Ihre langen roten Haare waren zurückgebunden, damit sie das, was sie tat, besser tun konnte, nämlich sich eine Zigarette anzünden. Das Objekt saß im Schneidersitz vorgebeugt da und hielt die Zigarette im Mund über ein grünes Porzellanfeuerzeug, das die Form einer Artischocke hatte. Im Feuerzeug war nur noch wenig Gas. Sie schüttelte es und drückte die Taste mehrmals mit dem Daumen, bis endlich eine kleine Flamme herausschoss.
    »Deine Eltern lassen dich rauchen?«, fragte ich.
    Sie blickte erstaunt auf, wandte sich dann wieder der liegen gebliebenen Arbeit zu. Sie brachte die Zigarette zum Brennen, inhalierte tief und ließ langsam, befriedigt den Rauch entweichen. »Die rauchen doch auch«, sagte sie. »Die wären ja ganz schöne Heuchler, wenn sie mich nicht rauchen ließen.«
    »Aber sie sind erwachsen."«
    »Mummy und Daddy wissen, dass ich rauche, wenn ich es will. Wenn sie mich nicht lassen, mach ich's eben heimlich.«
    Wie es aussah, war diese Vereinbarung schon seit einiger Zeit in Kraft. Für das Objekt war Rauchen nichts Neues. Sie war darin schon Profi. Während sie mich, mit sich zu Schlitzen verengenden Augen, taxierte, hing ihr schräg die Zigarette im Mund. Rauch stieg an ihrem Gesicht auf. Es war ein eigenartiger Gegensatz: der Ausdruck eines abgebrühten Privatdetektivs auf dem Gesicht eines Mädchens, das die Uniform einer Privatschule trug. Schließlich nahm sie die Zigarette aus dem Mund. Ohne hinzusehen, schnippte sie die Asche ab. Sie fiel genau in den Aschenbecher.
    »Ich möchte bezweifeln, dass eine wie du raucht«, sagte sie.
    »Gut geraten.«
    »Hast du Lust, damit anzufangen?« Sie hielt mir eine Schachtel Tareyton hin.
    »Ich will nicht Krebs kriegen.«
    Achselzuckend warf sie die Schachtel hin. »Ich schätze mal, wenn's bei mir so weit ist, können sie den heilen.«
    »Das hoffe ich. Um deinetwillen.«
    Sie inhalierte wieder, nun noch tiefer. Sie behielt den Rauch drin, drehte sich ins Filmprofil und blies ihn heraus.
    »Bestimmt hast du keine schlechten Angewohnheiten«, sagte sie.
    »Ich hab tausend schlechte Angewohnheiten.«
    »Was zum Beispiel?«
    »Ich kaue an meinen

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