Middlesex
hineinschauen. Miss Stephanides liest uns gerade aus dem dritten Buch der Ilias vor.«
Ich las weiter. Das heißt, meine Augen folgten den Sätzen und mein Mund formte die Wörter. Aber mein Verstand achtete nicht mehr auf ihre Bedeutung. Als ich fertig war, warf ich meine Haare nicht zurück. Ich ließ sie vor dem Gesicht hängen. Durch ein Schlüsselloch spähte ich hinaus.
Das Mädchen hatte sich schräg vor mir hingesetzt. Sie beugte sich zu Reetika, als wollte sie mitlesen, doch ihre Augen betrachteten die Pflanzen. Ihre Nase kräuselte sich ob des mulchigen Geruchs.
Ein Teil meines Interesses war wissenschaftlicher, zoologischer Natur. Noch nie hatte ich ein Geschöpf mit so vielen Sommersprossen gesehen. Es hatte, mit ihrem Nasenrücken als Zentrum, einen Urknall gegeben, und die Gewalt dieser Explosion hatte Galaxien von Sommersprossen bis an alle Enden ihres geschwungenen, warmblütigen Universums geschleudert und geweht. Sommersprossenhaufen waren auf ihren Unterarmen und Handgelenken, eine ganze Milchstraße erstreckte sich über ihre Stirn, sogar in die Wurmlöcher ihrer Ohren waren ein paar Quasare hineingespritzt.
Da wir gerade beim Englischunterricht sind, möchte ich ein Gedicht zitieren: Gerald Manley Hopkins' »Scheckige Schönheit«, das mit »Gepriesen sei Gott für scheckige Dinge« beginnt. Wenn ich mich an meine unmittelbare Reaktion auf das rothaarige Mädchen erinnere, scheint sie mir eine Würdigung natürlicher Schönheit zu sein. Ich meine die Herzensfreude, die einem der Anblick gesprenkelter Blätter oder der palimpsestartigen Rinde provenzalischer Platanen gewährt. Das Farbenspiel, die rotbraunen Kleckse, die auf ihrer milchweißen Haut schwammen, die goldenen Strähnen in ihrem erdbeerfarbenen Haar, das hatte etwas zutiefst Einnehmendes. Sie anzusehen war wie Herbst. Es war wie eine Fahrt in den Norden, um die Färbungen zu sehen.
Währenddessen saß sie weiter seitlich hingesackt an ihrem Pult, die Beine mit den blauen Kniestrümpfen von sich gestreckt, sodass die abgetretenen Absätze ihrer Schuhe zu sehen waren. Da sie der Lesung nicht beigewohnt hatte, wurde sie auch nicht abgefragt, aber Mr. da Silva sandte besorgte Blicke zu ihr hin. Das neue Mädchen bemerkte sie nicht. Sie fläzte sich in ihrem orangefarbenen Licht und klimperte schläfrig mit den Augen, Dann gähnte sie auch noch und brach nach halbem Gähnen abrupt ab, als wäre es nicht gut gelungen. Sie schluckte etwas hinunter und klopfte sich mit der Faust gegen das Brustbein. Lautlos stieß sie auf und flüsterte: »Ay, caramba.« Kaum war der Unterricht vorüber, war sie weg.
Wer war das? Woher war sie gekommen? Warum war sie mir vorher nie in der Schule aufgefallen? Offenkundig war sie nicht neu an der Baker & Inglis. Ihre Halbschuhe hatte sie an den Fersen runtergetrampelt, sodass sie hineinschlüpfen konnte wie in Clogs. So etwas taten die Armspangen. Auch hatte sie einen alten Ring mit echten Rubinen am Finger. Ihre Lippen waren schmal, streng, protestantisch. Ihre Nase war eigentlich gar keine Nase. Sie war ein Anflug von einer Nase, mehr nicht.
Jeden Tag betrat sie mit derselben distanzierten, gelangweilten Miene die Klasse. Sie schlurfte in ihren Halbschuhclogs wie auf Schlittschuhen gleitend, die Knie gebeugt, das Gewicht nach vorn verlagert. Das trug zu ihrem halbherzigen Gesamteindruck bei. Wenn sie hereinkam, goss ich immer Mr. da Silvas Pflanzen. Er hatte mich gebeten, dies vor Unterrichtsbeginn zu tun. Daher begann jeder Tag gleich, ich am einen Ende des gläsernen Raums, umschlossen von Geranienblüten, und als Antwort darauf dieser Ausbruch von Rot durch die Tür.
Die Art, wie sie ihre Füße nachzog, machte deutlich, wie sie das seltsame, alte, tote Epos fand, das wir gerade lasen. Es interessierte sie nicht. Nie hatte sie ihre Hausaufgaben. Sie versuchte, sich durch den Unterricht zu mogeln. Sie schlampte die Klassenarbeiten und Tests hin. Wäre eine Armspangen- Kumpanin dagewesen, hätten sie die Fraktion der desinteressierten Durchwurstlerinnen bilden können. Allein aber konnte sie nur mürrisch glotzen. Mr. da Silva gab es auf, ihr etwas beibringen zu wollen, und nahm sie so wenig wie möglich dran.
Ich beobachtete sie im Unterricht, und ich beobachtete sie auch sonst. Kaum war ich in der Schule angekommen, hielt ich auch schon nach ihr Ausschau. Ich saß in einem der gelben Ohrensessel im Foyer, tat so, als machte ich Hausaufgaben, und wartete, dass sie vorbeiging. Ihre kurzen Auftritte
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