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Middlesex

Middlesex

Titel: Middlesex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffrey Eugenides
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hauten mich immer um. Ich war wie eine Comicfigur, um deren Kopf Sternchen kreisten. Sie bog um die Ecke, auf einem Flair-Stift kauend, schlurfend, als trüge sie Pantoffeln. In ihrem Gang war immer etwas Gehetztes. Wenn sie nicht ständig die Füße in ihre runtergetrampelten Schuhe gebohrt hätte, wären sie davongeflogen. Das betonte ihre Wadenmuskeln. Auch dort hatte sie Sommersprossen. Es war fast eine Sonnenbräune. Gleitend stürmte sie vorbei, im Gespräch mit einer anderen Armspange, beide mit der trägen, selbstbewussten Arroganz, die ihnen allen eigen war. Manchmal sah sie zu mir her, zeigte aber kein Erkennen. Eine Nickhaut senkte sich über ihren Blick.
    Gestatten Sie mir einen Anachronismus. Luis Bunuels Dieses obskure Objekt der Begierde kam erst 1977 in die Kinos. Da hatten das rothaarige Mädchen und ich schon keinen Kontakt mehr. Ich möchte bezweifeln, dass sie den Film überhaupt gesehen hat. Dennoch denke ich an Dieses obskure Objekt der Begierde, wenn ich an sie denke. Ich habe ihn im Fernsehen gesehen, in einer spanischen Bar, als ich in Madrid arbeitete. Die meisten Dialoge verstand ich nicht. Aber die Handlung war trotzdem klar. Ein älterer Herr, gespielt von Fernando Rey, verliebt sich in ein junges, schönes Mädchen, gespielt von Carole Bouquet und Angela Molina. Das alles war mir gleichgültig. Was mich faszinierte, war das Surrealistische daran. In vielen Szenen trägt Fernando Rey einen schweren Sack auf der Schulter. Der Grund für diesen Sack wird nie erwähnt. (Oder wenn doch, war mir auch das entgangen.) Er schleppt nur immer diesen Sack herum, in Restaurants und durch den Stadtpark. Genauso kam auch ich mir vor, als ich mein obskures Objekt verfolgte. Als hätte ich eine mysteriöse, unerklärte Last oder Bürde herumgetragen. Und deshalb werde ich sie so nennen, wenn Sie nichts dagegen haben. Ich werde sie das obskure Objekt nennen. Aus sentimentalen Gründen. (Außerdem muss ich ihre Identität schützen.)
    Im Sportunterricht spielte sie die Kranke. Beim Mittagessen hatte sie einen Lachanfall. Über den Tisch gebeugt, versuchte sie, dem verantwortlichen Witzbold eine runterzuhauen. Aus ihrem Mund drangen Milchbläschen. Aus ihrer Nase liefen ein paar Tröpfchen, sodass alle nur noch lauter lachten. Als Nächstes sah ich sie nach der Schule, wie sie mit einem unbekannten Jungen Fahrrad fuhr. Sie setzte sich auf den Sattel, er stand auf den Pedalen. Sie legte ihm nicht die Arme um die Taille. Ihr Gleichgewicht hielt sie ganz allein. Das machte mir Hoffnung.
    Eines Tages im Unterricht bat Mr. da Silva das Objekt, vorzulesen.
    Wie immer lümmelte sie an ihrem Pult. An einer Mädchenschule brauchte man nicht so sehr darauf zu achten, die Knie beisammenzuhalten oder dass der Rock heruntergezogen war. Das Objekt hatte die Knie weit auseinander und die Beine, die an den Schenkeln etwas kräftig waren, bis weit oben entblößt. Ohne sich etwa aufzusetzen, sagte sie: »Ich hab mein Buch vergessen.«
    Mr. da Silva presste die Lippen zusammen.
    »Sie können bei Callie reinschauen.«
    Ihr einziges Zeichen von Zustimmung war, sich die Haare aus dem Gesicht zu streichen. Sie legte sich eine Hand auf die Stirn und führte sie wie einen Pflug nach hinten, sodass ihre Finger Furchen hinterließen. Dem folgte ein kleines Kopfrucken, ein kurzer Schwung. Da war sie, ihre Wange, und gestattete Annäherung. Ich sauste zu ihr hin. Ich schob mein Buch auf die Spalte zwischen unseren Pulten. Das Objekt beugte sich darüber.
    »Ab wo?«
    »Seite hundertzwölf oben. Die Beschreibung von Achilles' Schild.«
    Noch nie war ich dem obskuren Objekt so nahe gewesen. Das strapazierte meinen Organismus. Mein Nervensystem stimmte den »Hummelflug« an. Die Geiger sägten an meinem Rückgrat. Die Pauken donnerten in meiner Brust. Gleichzeitig, um all das zu verbergen, regte ich keinen Muskel. Ich atmete kaum. Im Grunde war es das: außen Katatonie, innen Raserei.
    Ich konnte ihren Zimtkaugummi riechen. Sie hatte ihn noch irgendwo hinten im Mund. Ich sah sie nicht an. Ich hielt den Blick auf das Buch gerichtet. Eine rotgoldene Haarsträhne fiel zwischen uns auf das Pult. Wo die Sonne auf ihre Haare traf, gab es einen Spektraleffekt. Aber noch während ich den einen Zentimeter langen Regenbogen betrachtete, begann sie zu lesen.
    Ich erwartete eine nasale, mit Versprechern durchsetzte Monotonie. Ich erwartete Schlaglöcher, Schlenker, kreischende Bremsen, Frontalzusammenstöße. Doch das obskure Objekt hatte eine gute

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