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Middlesex

Middlesex

Titel: Middlesex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffrey Eugenides
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Lesestimme. Sie war klar, kräftig, geschmeidig rhythmisiert. Diese Stimme hatte sie sich zu Hause abgelauscht, bei Gedichte vortragenden Onkeln, die zu viel tranken. Auch ihr Ausdruck änderte sich. Eine konzentrierte Würde, die vorher gefehlt hatte, prägte nun ihre Züge. Ihr Kopf reckte sich auf einem stolzen Hals. Ihr Kinn war erhoben. Sie klang nicht wie vierzehn, sondern wie vierundzwanzig. Ich frage mich, was eigenartiger war, die Eartha-Kitt-Stimme, die aus meinem Mund kam, oder die Katharine Hepburns aus dem ihren.
    Als sie fertig war, herrschte Stille. »Vielen Dank«, sagte Mr. da Silva, ebenso überrascht wie wir. »Das war sehr schön gelesen.«
    Die Klingel läutete. Sogleich nahm das Objekt Abstand von mir. Wieder fuhr sie sich mit der Hand durchs Haar, als spülte sie es unter der Dusche aus. Sie glitt aus ihrem Pult und verließ den Raum.
    An manchen Tagen, wenn das Gewächshaus nur eben so beleuchtet war und das obskure Objekt zwei Knöpfe an ihrer Bluse löste, wenn also das Licht das Kruzifix beschien, das zwischen den Körbchen ihres Büstenhalters baumelte, bekam Calliope da eine Ahnung von ihrer wahren biologischen Natur? Kam ihr, während das obskure Objekt durch den Aufenthaltsraum ging, je der Gedanke, dass das, was sie empfand, falsch war? Ja und nein. Sie müssen bedenken, wo sich das alles zutrug.
    Nichts sprach an der Baker & Inglis dagegen, für eine Klassenkameradin zu schwärmen. An einer Mädchenschule wird eine gewisse Menge emotionaler Energie, die normalerweise auf Jungen gelenkt wird, in Freundschaften umgeleitet. An der B & I gingen Mädchen, wie französische Schulmädchen, Arm in Arm. Sie wetteiferten um Zuneigung. Es kam zu Eifersüchteleien. Es gab Verrat. Nicht unüblich, die Toilette zu betreten und in einer Kabine ein Schluchzen zu hören. Mädchen weinten, weil Sowieso nicht beim Mittagessen neben ihnen sitzen wollte oder weil die beste Freundin einen neuen Freund hatte, der sie die ganze Zeit in Beschlag nahm. Überdies verstärkten Schulrituale die intime Atmosphäre. Es gab den Ringtag, an dem Große Schwestern Kleine Schwestern in den Kreis der Erwachsenen aufnahmen, indem sie ihnen Blumen und goldene Bänder schenkten. Es gab den Spinnrockentanz, ein Maibrauchtum ohne Männer, das im Frühjahr stattfand. Es gab das zweimonatliche »Von-Herz-zu- Herz«, Beichtbegegnungen unter Aufsicht des Schulkaplans, die in wildem Umarmen und Heulkrämpfen endeten. Gleichwohl blieb das Ethos der Schule militant heterosexuell. Tagsüber mochten meine Klassenkameradinnen vertraulich sein, bei ihren Unternehmungen nach der Schule aber waren Jungen Thema Nummer eins. Über jedes Mädchen, das in den Verdacht geriet, sich zu Mädchen hingezogen zu fühlen, wurde getratscht, man schikanierte und mied es. All das war mir bewusst. Es ängstigte mich.
    Ich wusste nicht, ob das, was ich für das obskure Objekt empfand, normal war oder nicht. Meine Freundinnen neigten immer wieder zu neidvollen Schwärmereien für andere Mädchen. Reetika geriet in Verzückung darüber, wie Alwyn Brier auf dem Klavier Finlandia spielte. Linda Ramirez war in Sofia Cracchiolo verschossen, weil sie drei Sprachen auf einmal belegte. War es das? Beruhte meine Schwärmerei für das Objekt auf ihrem Vortrags-talent? Das bezweifelte ich. Meine Schwärmerei war etwas Körperliches. Sie war kein Werturteil, sondern ein Aufruhr in meinen Adern. Aus dem Grund bewahrte ich Stillschweigen darüber. Ich versteckte mich in der Souterraintoilette, um die Sache zu durchdenken. Jeden Tag ging ich, wenn ich irgend konnte, über die Hintertreppe in die verlassene Toilette und schloss mich wenigstens für eine halbe Stunde ein.
    Gibt es einen anderen Ort, der so tröstet wie eine alte Vor kriegsschultoilette? Eine Toilette, wie sie in Amerika gebaut wurde, als das Land einen Aufschwung erlebte? Die Souterraintoilette an der Baker & Inglis war hergerichtet wie eine Opernloge. An der Decke strahlten edwardianische Leuchten. Die Waschbecken waren tiefe weiße Schüsseln, die in blauen Schiefer eingelassen waren. Beugte man sich nieder, um sich das Gesicht zu waschen, sah man winzige Risse im Porzellan, wie in einer Ming-Vase. Goldketten hielten die Abflussstöpsel fest. Unter den Hähnen hatte Tropfwasser das Porzellan in grünen Streifen dünn geschliffen.
    Über jedem Becken hing ein ovaler Spiegel. Mit keinem wollte ich etwas zu tun haben. (»Der Hass auf Spiegel, der in mittleren Jahren beginnt«, fing bei mir früh an.) Mein

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