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Middlesex

Middlesex

Titel: Middlesex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffrey Eugenides
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Schieferdach und dem Efeu. In Amerika wendet man sich England zu, wenn man seine Ethnie abstreifen will. Milton trug einen blauen Blazer und eine cremefarbene Hose. Er sah aus wie der Kapitän eines Kreuzfahrtschiffs. Einen Arm auf Tessies Schulter, führte er sie freundlich die Treppe hinab zu einem guten Platz.
    Das Publikum verstummte. Dann war eine Panflöte zu hören es war Mr. da Silva mit seiner Blockflöte.
    Ich ging zum Objekt und sagte: »Keine Sorge, du machst das schon.«
    Sie hatte sich den Text lautlos vorgesagt, hielt nun inne.
    »Du bist eine richtig gute Schauspielerin«, fuhr ich fort.
    Sie wandte sich ab und senkte den Kopf, bewegte erneut die Lippen.
    »Du vergisst deinen Text schon nicht. Wir haben ihn tausendmal wiederholt. Gestern hast du ihn noch perfekt ge...«
    »Hörst du vielleicht mal auf, mich zu nerven?«, blaffte das Objekt. »Ich versuche, mich einzustimmen.« Sie funkelte mich böse an. Dann stand sie auf und ging davon.
    Ich sah ihr nach, geknickt, verabscheute mich. Cool? Von wegen. Schon hatte ich erreicht, dass das obskure Objekt mich satt hatte. Mir war zum Heulen zumute, also wickelte ich mich in einen der schwarzen Vorhänge. Ich stand im Dunkeln und wollte nur noch eins: tot sein.
    Ich hatte ihr nicht einfach nur geschmeichelt. Sie war tatsächlich gut. Auf der Bühne legte sich ihre Zappeligkeit immer. Ihre Haltung wurde besser. Und natürlich war da ihre schiere physische Präsenz, die blutbefleckte Klinge, die sie war, die Farbenexplosion, die alle Blicke auf sich zog. Die Panflöte verstummte, und auf dem Hockeyplatz wurde es wieder still. Manche husteten noch rasch. Ich linste aus dem Vorhang und sah das Objekt auf ihren Auftritt warten. Sie stand genau unter dem mittleren Bogen, keine drei Meter von mir entfernt. Nie zuvor hatte ich sie so ernst gesehen, so konzentriert. Talent hat mit Intelligenz zu tun. Und während sie auf ihren Einsatz wartete, fand sie so richtig zu sich selbst. Ihre Lippen bewegten sich, als spreche sie Sophokles' Text für Sophokles, als verstehe sie, ohne sie geistig zu erfassen, die literarischen Gründe dafür, dass er bis heute überdauert hatte. So stand sie da und wartete. Weit weg von ihren Zigaretten und ihren Versnobtheiten, ihren Cliquenfreundinnen, ihrer grauen haften Rechtschreibung. Denn darin war sie gut: vor Leuten aufzutreten. Rauszugehen und sich hinzustellen und zu sprechen. Das wurde ihr ganz allmählich bewusst. Ich wurde Zeuge, wie ein Ich das Ich entdeckte, das es sein konnte.
    Auf das Stichwort hin holte Antigone tief Luft und schritt auf die Bühne. Ihr weißes Gewand war mit einer Silberkordel um ihren Leib geschlungen. Das Gewand flatterte, als sie in die warme Brise hinaustrat.
    »Ob du den Toten zusammen mit dieser Hand aufhebst!«
    Maxine-Ismene antwortete: »Ja denkst du denn ihn zu bestatten, wo es verboten ist in der Stadt?«
    »Meinen doch und deinen Bruder, auch so du nicht willst; nicht will ich nämlich als Verräterin so dastehen.«
    Bis zu meinem Auftritt war es noch eine Weile hin. Teiresias' Rolle war nicht besonders groß. Ich schloss also wieder den Vorhang um mich und wartete. Ich hatte einen Stock in der Hand. Er war mein einziges Requisit, ein Plastikstock: damit er wie Holz aussah, bemalt.
    Und da hörte ich ein kleines, würgendes Geräusch. Erneut sagte das Objekt: »Nicht will ich nämlich als Verräterin so dastehen.« Gefolgt von Stille. Ich spähte durch den Vorhang. Durch den Mittelbogen konnte ich sie sehen. Das Objekt stand mit dem Rücken zu mir. Ein Stück weiter stand Maxine Grossinger mit einem leeren Blick. Ihr Mund war offen, aber Wörter kamen nicht heraus. Hinter ihr, knapp oberhalb des Bühnenrands, war Miss Fagles' blühendes Gesicht und flüsterte Maxines nächsten Satz.
    Das war kein Lampenfieber. In Maxine Grossingers Gehirn war ein Aneurysma geplatzt. Anfangs glaubte das Publikum, ihr kurzes Taumeln und der schockierte Ausdruck gehörten zum Stück. Es wurde schon leise gekichert über die übertriebene Art, in der das Mädchen Ismene spielte. Doch Maxines Mutter, die ganz genau wusste, wie auf dem Gesicht ihres Kindes Schmerz aussah, schoss von ihrem Sitz hoch. »Nein«, rief sie.
    »Nein!« Sieben Meter von ihr, vor einer untergehenden Sonne aufragend, war Maxine Grossinger noch immer stumm. Ein Gurgeln drang aus ihrer Kehle. Mit der Jähheit eines Beleuchtungswechsels lief sie blau an. Selbst in den hinteren Reihen sahen die Leute, wie der Sauerstoff aus ihrem Blut wich. Das

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