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Middlesex

Middlesex

Titel: Middlesex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffrey Eugenides
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nehmen.
    »Kann ich dir aber mal was sagen?«, fragte sie. »Zu deiner Rolle?«
    »Klar.«
    »Weißt du, wie du auf blind machen müsstest und so? Also, auf den Bermudas, wo wir immer hinfahren, ist einer, der hat ein Hotel. Und der ist blind. Und bei dem ist das so, na ja, als wären seine Ohren seine Augen. Wenn jemand reinkommt, dann dreht er ein Ohr in die Richtung. Aber wie du das machst...« Sie hielt plötzlich inne und nahm meine Hand. »Du wirst doch nicht sauer auf mich, oder?«
    »Nein.«
    »Du machst ein ganz schreckliches Gesicht, Callie!«
    »Wirklich?«
    Sie hatte meine Hand. Ließ sie nicht los. »Und du bist wirklich nicht sauer?«
    »Ich bin nicht sauer.«
    »Also, wie du einen Blinden spielst, du, na ja, du stolperst ziemlich viel herum. Aber der Blinde auf den Bermudas, der stolpert nie. Er steht ganz aufrecht da, und er weiß, wo alles ist. Und seine Ohren sind immer auf die Sachen gerichtet.«
    Ich wandte den Kopf ab.
    »Siehst du, du bist doch sauer.«
    »Gar nicht.«
    »Doch. «
    »Ich bin blind«, sagte ich. »Ich sehe dich mit dem Ohr an.«
    »Oh. Das ist gut. Ja, genau so. Das ist richtig gut.«
    Ohne meine Hand loszulassen, neigte sie sich noch näher zu mir hin, und ich hörte, spürte, ganz sachte, ihren heißen Atem in meinem Ohr. »Hallo, Teiresias«, sagte sie kichernd. »Ich bin's. Antigone.«
    Der Tag der Aufführung kam (»Premiere« nannten wir sie, obwohl keine weiteren folgen würden). Wir Hauptdarsteller saßen auf Klappstühlen in einer improvisierten »Garderobe« hinter der Bühne. Alle anderen Achtklässler waren schon auf der Bühne, wo sie in einem weiten Halbkreis standen. Das Stück sollte um neunzehn Uhr beginnen und noch vor Sonnenuntergang zu Ende sein. Es war 18.55 Uhr. Wir hörten, wie sich jenseits der Kulissen der Hockeyplatz füllte. Das leise Gemurmel wurde stetig lauter -Stimmen, Schritte, das Knarren der Tribüne, das Zuschlagen von Autotüren auf dem Parkplatz. Jede von uns trug ein fußbodenlanges Gewand, schwarz, grau, weiß gebatikt. Das obskure Objekt aber hatte ein weißes Gewand. Mr. da Silvas Konzept war minimalistisch: kein Make up, keine Masken.
    »Wie viele sind denn draußen?«, fragte Tina Kubek. Maxine Grossinger spähte hinaus. »Massen.«
    »Du bist das doch sicher gewöhnt, Maxine«, sagte ich. »Von deinen ganzen Konzerten.«
    »Wenn ich Geige spiele, werde ich nicht nervös. Das hier ist viel schlimmer.«
    »Ich bin ja sooo nervös«, sagte das Objekt.
    Sie hatte ein Glas Roiaids-Tabletten auf dem Schoß, die sie wie Süßigkeiten aß. Jetzt begriff ich, warum sie sich an ihrem ersten Tag in der Klasse auf die Brust geschlagen hatte. Das obskure Objekt hatte mehr oder weniger ständig Sodbrennen. Aufregung verschlimmerte es. Einige Minuten davor hatte sie sich zurückgezogen, um ihre letzte Zigarette vor der Aufführung zu rauchen. Nun kaute sie Magentabletten. Von altem Geld abzustammen bedeutete wohl auch, die Angewohnheiten der Alten zu haben, die fiesen Erwachsenenbedürfnisse, die schrecklichen Medikamente. Das Objekt war noch zu jung, als dass sich die Auswirkungen an ihr zeigen konnten. Sie hatte noch keine Tränensäcke und auch noch keine braunen Fingernägel. Aber das Verlangen nach überfeinertem Ruin war schon da. Wenn man ihr nahe kam, roch sie nach Rauch. Ihr Magen war kaputt. Doch ihr Gesicht hatte weiterhin sein herbstliches Gepräge. Die Katzenaugen über der Stupsnase waren wach, blinzelten und richteten ihre Aufmerksamkeit jetzt wieder auf den wachsenden Lärm vor den Kulissen.
    »Da sind meine Mom und Dad!«, schrie Maxine Grossinger. Sie drehte sich zu uns um, breit lächelnd. Nie zuvor hatte ich Maxine lächeln sehen. Ihre Zähne waren schartig und voller Lücken, wie bei einem der wilden Sendak-kerle. Eine Zahnspange hatte sie auch. Ihre unverhohlene Freude offenbarte mir ihr Wesen. Abseits der Schule führte sie ein ganz anderes Leben. In ihrem Haus hinter den Zypressen war Maxine glücklich. Locken fielen in Kaskaden von ihrem fragilen, musischen Kopf.
    »O Gott.« Maxine spähte erneut hinaus. »Die sitzen ganz vorn in der ersten Reihe. Die haben mich gleich voll im Blick.«
    Wir linsten alle nach draußen, eine nach der anderen. Nur das obskure Objekt blieb sitzen. Ich sah meine Eltern kommen. Mil ton blieb oben am Abhang stehen und blickte auf den Hockeyplatz. Seiner Miene nach zu urteilen, gefiel ihm die Szenerie, das satte grüne Gras, die weiße Holztribüne, die Schule in der Ferne mit ihrem blauen

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