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Middlesex

Middlesex

Titel: Middlesex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffrey Eugenides
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Rosa sickerte weg, von Stirn, Wangen, Hals. Später schwor das obskure Objekt, Maxine habe sie irgendwie flehend angeschaut, und sie habe Maxines Augen brechen sehen. Den Ärzten zufolge stimmte das aber wahrscheinlich nicht. In ihr dunkles Gewand gehüllt, noch auf den Beinen, war Maxine Grossinger schon tot. Erst Sekunden später kippte sie vornüber.
    Mrs. Grossinger hastete auf die Bühne. Jetzt gab sie keinen Laut von sich. Auch sonst niemand. Stumm erreichte sie Maxine und riss ihr Gewand auf. Stumm begann die Mutter mit einer Mund-zu-Mund-Beatmung. Ich erstarrte. Ich wand mich aus dem Vorhang, trat hinaus und gaffte. Plötzlich huschte etwas Weißes durch den Bogen. Das obskure Objekt flüchtete von der Bühne. Einen Moment lang hatte ich eine verrückte Idee. Ich dachte, Mr. da Silva habe uns etwas verheimlicht. Schließlich machte er ja alles auf die traditionelle Weise. Denn das obskure Objekt trug eine Maske. Die Tragödienmaske, die Augen wie Messerschlitze, der Mund ein Bumerang des Leids. Mit diesem scheußlichen Gesicht warf sie sich an mich. »O Gott!«, schluchzte sie. »O Gott, Callie«, und sie zitterte und brauchte mich.
    Was mich zu einem schrecklichen Geständnis führt. Nämlich folgendem. Während Mrs. Grossinger versuchte, das Leben zurück in Maxines Körper zu atmen, während die Sonne sich melodramatisch über eine Tote senkte, von der nichts im Textbuch stand, durchbrandete mich eine Woge puren Glücks. Jeder Nerv, jedes Blutkörperchen flackerte auf. Ich hielt das obskure Objekt in meinen Armen.

TEIRESIAS IST VERLIEBT
    »Ich hab dir einen Arzttermin besorgt.«
    »Ich war doch gerade erst beim Arzt.«
    »Nicht bei Dr. Phil. Bei Dr. Bauer.«
    »Wer ist Dr. Bauer?«
    »Er ist... Frauenarzt.«
    In meiner Brust brodelte es heiß. Als äße mein Herz Pop Rocks. Aber ich spielte die Gelassene und blickte auf den See.
    »Wer sagt, dass ich eine Frau bin?«
    »Sehr witzig.«
    »Ich war doch gerade erst beim Arzt, Mom.«
    »Das war eine Routinesache.«
    »Und das jetzt?«
    »Wenn Mädchen in ein bestimmtes Alter kommen, Callie, müssen sie sich untersuchen lassen.«
    »Warum?«
    »Damit wir wissen, dass alles in Ordnung ist.«
    »Wie meinst du das, alles?«
    »Na, eben - alles.«
    Wir waren im Auto. Im zweitbesten Cadillac. Wenn Milton sich ein neues Auto zulegte, bekam Tessie das alte. Das obskure Objekt hatte gefragt, ob ich den Tag nicht mit ihr im Club verbringen wolle, und meine Mutter fuhr mich nun zu ihr.
    Es war Sommer, zwei Wochen nachdem Maxine Grossinger auf der Bühne zusammengebrochen war. Die Ferien hatten begonnen. In der Middlesex liefen die Vorbereitungen für unsere Reise in die Türkei. Fest entschlossen, sich unsere Reisepläne nicht durch Pleitegeiers Brandmarkung des Tourismus vermiesen zu lassen, buchte Milton Flüge und feilschte mit Autovermietern. Jeden Morgen blickte er in die Zeitung und verkündete die Wetterlage in Istanbul.
    »Siebenundzwanzig Grad, sonnig. Na, Callie, wie findest du das?« Worauf ich meistens mit dem Zeigefinger wackelte. Ich war nicht mehr besonders begierig darauf, die Heimat zu besuchen. Ich wollte meinen Sommer nicht damit verschwenden, eine Kirche anzustreichen. Griechenland, Kleinasien, der Olymp, was hatte das mit mir zu tun? Nur wenige Kilometer entfernt hatte ich soeben einen ganzen Kontinent entdeckt.
    Im Sommer 1974 kamen Griechenland und die Türkei wieder in die Schlagzeilen. Aber den wachsenden Spannungen schenkte ich keine Beachtung. Ich hatte meine eigenen Sorgen. Mehr noch, ich war verliebt. Im Verborgenen, schändlich, nicht ganz bewusst, aber trotz alledem verliebt bis über beide Ohren.
    Unser hübscher See hatte eine Borte aus Schmutz. Das juniübliche Fischfliegengestöber. Auch ein neues Schutzgeländer war angebracht worden, was mich im Vorbeifahren melancholisch stimmte. Maxine Grossinger war nicht das einzige Mädchen an meiner Schule, das in diesem Jahr gestorben war. Carol Henkel, eine aus der vorletzten Klasse, war bei einem Autounfall umgekommen. An einem Samstagabend hatte ihr betrunkener Freund, ein Typ namens Rex Reese, den Wagen seiner Eltern in den See gefahren. Rex war heil herausgekommen und ans Ufer geschwommen. Carol aber war im Auto stecken geblieben.
    Wir kamen an der Baker & Inglis vorbei, die über die Ferien geschlossen war und sich der Unwirklichkeit von Schulen während des Sommers hatte beugen müssen. Wir bogen in die Kerby Road ein. Das Objekt wohnte am Tonnacour Boulevard in einem grauen,

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