Middlesex
zurückfinden. Ich konnte das Auto von den Eltern des Objekts stehlen. Ich konnte nach Norden fahren, über die Upper Peninsula nach Kanada, wo Pleitegeier fast einmal hingefahren wäre, um der Einberufung zu entgehen. Während ich mir mein Leben auf der Flucht ausmalte, spähte ich über den Rand der Liege, um zu sehen, was Jerome gerade tat.
Er lag mit geschlossenen Augen auf dem Rücken. Und lächelte in sich hinein.
Er lächelte? Wie denn? Spöttisch? Nein. Entsetzt? Wieder falsch. Wie dann? Zufrieden. Jerome zeigte das Lächeln eines Jungen, der es in einer Sommernacht richtig und ganz getan hatte. Er zeigte das Lächeln eines Typen, der es nicht abwarten konnte, davon seinen Freunden zu erzählen.
Lieber Leser, glauben Sie's, wenn Sie können: Ihm war gar nichts aufgefallen.
DIE WAFFE AN DER WAND
Ich wachte im Haus auf. Ich hatte eine vage Erinnerung daran, wie ich dorthin gelangt, wie ich durch den Sumpf zurückgestapft war. Ich trug noch die Latzhose. Zwischen den Beinen war ich erhitzt und schwammig. Das Objekt war schon aufgestanden oder hatte anderswo geschlafen. Ich griff mir in den Schritt und löste die Unterhose von meiner Haut. Etwas an dieser Handlung, der kleine Luftschwall, das aufsteigende Aroma, führte mir wieder das brandneue Faktum über mich vor Augen. Aber ein Faktum war es ja eigentlich gar nicht. Es war noch nicht annähernd so handfest wie ein Faktum. Es war nur eine Ahnung, die ich über mich gehabt hatte, eine Ahnung, die mir der anbrechende Morgen nicht klarer machte. Es war nur eine Idee, die schon zu verblassen, schon Teil des vornächtlichen Rausches im Wald zu werden begann.
Wenn die Pythia in Delphi nach einer ihrer wilden prophezeienden Nächte aufwachte, hatte sie wahrscheinlich keine Erinnerung daran, was sie alles gesagt hatte. Die Wahrheiten, auf die sie gestoßen war, traten hinter die unmittelbaren Empfindungen zurück: den Kopfschmerz, den rauen Hals. Bei Calliope war es genauso. Ich hatte das Gefühl, befleckt und initiiert worden zu sein. Ich fühlte mich ganz erwachsen. Vor allem aber war mir übel, und ich wollte überhaupt nicht daran denken, was geschehen war.
Unter der Dusche versuchte ich, das Erfahrene wegzuspülen, schrubbte mich systematisch ab, reckte das Gesicht dem schrägen Wasserstrahl entgegen. Dampferfüllte die Luft. Spiegel und Fenster tropften. Die Handtücher wurden feucht. Ich nahm jede verfügbare Seife, Lifebuoy, Ivory, dazu eine hiesige, ländliche Marke, die wie Schmirgelpapier war. Ich zog mich an und ging leise die Treppe nach unten. Auf dem Weg durchs Wohnzimmer bemerkte ich eine alte Flinte über dem Kaminsims. Wieder eine Waffe an der Wand. Auf Zehenspitzen ging ich an ihr vorbei. In der Küche saß das Objekt, aß Cornflakes und las eine Zeitschrift. Sie blickte nicht auf, als ich eintrat. Ich holte mir ebenfalls eine Schale und setzte mich ihr gegenüber. Vielleicht machte ich dabei eine Grimasse.
»Was ist los?«, höhnte das Objekt. »Wund?« Ihr sarkastisches Gesicht ruhte auf einem Handteller. Sie sah selbst nicht gerade blendend aus. Sie war unter den Augen aufgequollen. Es gab Zeiten, da waren ihre Sommersprossen nicht sonnig, sondern wie Korrosion oder Rost.
»Du müsstest doch eigentlich selber wund sein«, entgegnete ich.
»Ich bin überhaupt nicht wund«, sagte das Objekt, »wenn du's genau wissen willst.«
»Hab ich vergessen«, sagte ich; »du bist es ja gewöhnt.«
Auf einmal bebte ihr Gesicht vor Zorn. Sehnen spannten sich unter ihrer Haut und zerrten, bildeten Furchen. »Du warst letzte Nacht ja die totale Schlampe«, fuhr sie mich an.
»Ich? Und was ist mit dir? Du hast dich doch die ganze Zeit an Rex rangeschmissen.«
»Gar nicht. So viel haben wir außerdem nicht gemacht.«
»Für wie blöd hältst du mich eigentlich?«
»Wenigstens ist er nicht dein Bruder.« Mit funkelnden Augen stand sie auf. Sie sah aus, als würde sie gleich losheulen. Sie hatte sich nicht den Mund abgewischt. Marmeladenreste klebten daran, Krümel. Ich war sprachlos vor Erstaunen über den Anblick dieses geliebten Gesichts, das sich in, ja, vielleicht war es Hass, hineinsteigerte. Auch auf meinem Gesicht tat sich wohl etwas. Ich spürte, wie meine Augen sich angstvoll weiteten. Das Objekt wartete darauf, dass ich etwas sagte, aber mir fiel nichts ein. Und so stieß sie schließlich ihren Stuhl weg und sagte: »Jerome ist oben. Kannst ja gleich wieder zu ihm ins Bett steigen.« Dann stürmte sie davon.
Die Folge: ein Moment des
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