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Middlesex

Middlesex

Titel: Middlesex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffrey Eugenides
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Stepan klapste er auf den Rücken, wobei er auf das Schachbrett zeigte und mit gespieltem Ernst sagte: »Dass ihr mir ja nicht die Figuren bewegt.« Er zog die Haustür hinter sich zu, prüfte mit der Schulter, ob sie auch wirklich versperrt war, und schritt die Suyane-Straße hinab, vorbei an den geschlossenen Geschäften und den Fensterläden des Armenierviertels. Vor Berberians Bäckerei blieb er stehen und fragte sich, ob Charles Berberian mit seiner Familie die Stadt verlassen hatte oder ob sie sich wie die Philobosians im Oberge-schoss versteckt hielten. Fünf Tage lang lebten sie nun in ihrer selbst gewählten Gefangenschaft. Dr. Philobosian und seine Söhne spielten endlos Schach, Rose und Anita sahen sich eine Ausgabe von Photoplay an, die er ihnen kurz zuvor von einem Besuch in dem Amerikanervorort Paradise mitgebracht hatte, Toukhie kochte Tag und Nacht, weil Essen das Einzige war, was die Anspannung linderte. An der Bäckereitür hing lediglich ein Schild mit der Aufschrift IN KÜRZE GEÖFFNET sowie ein Porträt - bei dem Philobosian das Gesicht verzog - von Kemal, dem türkischen Armeeführer, resolut mit Astrachan-Kappe und Pelzkragen, die blauen Augen durchdringend unter den gekreuzten Säbeln seiner Augenbrauen. Dr. Philobosian wandte sich von dem Gesicht ab und ging weiter, wobei er sich alle Argumente, die dagegen sprachen, Kemals Porträt auf diese Weise aufzustellen, in Erinnerung rief. Erstens - wie er seiner Frau schon die ganze Woche gesagt hatte - würden die europäischen Mächte niemals zulassen, dass die Türken in die Stadt eindrangen. Zweitens, falls sie es trotzdem taten, würde die Präsenz der Kriegsschiffe im Hafen die Türken von Plünderungen abhalten. Selbst während der Massaker von 1915 waren die Armenier in Smyrna sicher gewesen. Und schließlich - wenigstens galt das für seine Familie - gab es noch den Brief, den er nun aus seiner Praxis holen wollte. Solcherart grübelnd, ging er weiter bergab, bis er im Europäerviertel war. Dort wurden die Häuser zusehends stattlicher. Zu beiden Seiten der Straße erhoben sich dreistöckige Villen mit blumenbewachsenen Balkonen und hohen, wehrhaften Mauern. Privat war Dr. Philobosian nie in diese Häuser eingeladen worden, hatte aber häufig Hausbesuche bei den levantinischen Mädchen gemacht: achtzehn-, neunzehnjährigen Mädchen, die ihn in den »Wasserpalästen« der Höfe erwarteten, wo sie inmitten einer verschwenderischen Fülle von Obstbäumen träge auf einer Bettcouch lagen; Mädchen, deren verzweifeltes Verlangen, einen europäischen Ehemann zu finden, ihnen eine skandalöse Freiheit gab - der Grund für Smyrnas Ruf als über die Maßen offiziersfreundliche Stadt und verantwortlich für die Fieberröte, die die Mädchen zeigten, wenn Dr. Philobosian sie morgens besuchte, und auch für die Art ihrer Beschwerden, die von einem beim Tanzen verrenkten Knöchel bis hin zu intimeren Schrammen etwas höher reichten. Bei alldem kannten die Mädchen keine Scham, sondern schoben seidene Negliges nach oben und sagten: »Da ist alles rot, Herr Doktor. Tun Sie was. Um elf muss ich im Casin sein.« Diese Mädchen sind jetzt alle fort, von ihren Eltern nach den ersten Kämpfen schon vor Wochen aus der Stadt gebracht, nach Paris und London - wo gerade die Saison begann -, und so waren die Häuser still, als Dr. Philobosian daran vorbeiging, und beim Gedanken an all die abgestreiften Gewänder wich die Misere aus seinem Kopf. Doch kaum war er um die Ecke gebogen und zum Kai gelangt, hatte sie ihn wieder.
    Vom einen Ende des Hafens zum anderen humpelten griechische Soldaten, erschöpft, ausgezehrt, unsauber, zum Ort der Einschiffung in Cesme, südwestlich der Stadt, um auf den Abstransport zu warten. Ihre abgerissenen Uniformen waren schwarz vom Ruß der Dörfer, die sie auf ihrem Rückzug niedergebrannt hatten. Noch eine Woche zuvor waren die eleganten Freiluftcafes im Hafenviertel mit Schiffsoffizieren und Dipomaten bevölkert gewesen; nun glich der Kai einem Wartepferch. Die ersten Flüchtlinge waren noch mit Teppichen und Sesseln, Radios, Victrola-Grammophonen, Stehlampen, Kommoden gekommen, hatten alles vor dem Hafen, unter freiem Himmel, ausgebreitet. Die später eingetroffenen Flüchtlinge hatten nur einen Sack oder Koffer dabei. Durch diesen Wirrwarr sausten Gepäckträger hin und her, beluden Boote mit Tabak, Feigen, Weihrauch, Seide und Mohair. Die Lagerhäuser wurden geleert, bevor die Türken eintrafen.
    Dr. Philobosian erblickte einen

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