Middlesex
Taschen verzeichneten nun keine Spielschulden mehr, sondern Nachsendeadressen in Athen oder Asto-ria. Im Zeitraum einer einzigen Woche packten die rund hundert Einwohner von Bithynios ihre Habe und machten sich zum griechischen Mutterland auf, die meisten wollten weiter nach Amerika. (Eine Diaspora, die meine Entstehung hätte verhindern sollen, es aber nicht tat.)
Vor der Abreise ging Desdemona noch einmal in den Garten und bekreuzigte sich auf die orthodoxe Art, mit dem Daumen. Sie verabschiedete sich: von dem pudrigen, modrigen Geruch der Seidenraupenzucht und von den Maulbeerbäumen, die die Mauer säumten, von den Stufen, die sie niemals wieder würde hinaufsteigen müssen, und auch von dem Gefühl, über der Welt zu wohnen.
Ein letztes Mal ging sie zu den Seidenraupen, um sie sich anzusehen. Alle hatten sie aufgehört zu spinnen. Sie pflückte einen Kokon von einem Maulbeerzweig und steckte ihn in die Tasche ihres Kasacks.
Am 6. September 1922 erwachte General Hajienestis, der Oberbefehlshaber der griechischen Truppen in Kleinasien, und dachte, seine Beine wären aus Glas. Aus Angst vor dem Aufstehen schickte er den Barbier weg, auf seine Morgenrasur verzichtete er. Am Nachmittag nahm er davon Abstand, an Land zu gehen und, wie sonst üblich, an der Promenade von Smyrna ein Zitroneneis zu essen. Stattdessen lag er still und wach auf dem Rücken und wies seine Adjutanten an - sie kamen und gingen mit Meldungen von der Front -, nicht mit der Tür zu knallen oder den Füßen aufzustampfen. Es war einer der lichteren, produktiveren Tage des Befehlshabers. Als die türkische Armee zwei Wochen zuvor Afyon angegriffen hatte, hatte Hajienestis geglaubt, er sei tot und die Lichtreflexe an seinen Kabinenwänden seien das Feuerwerk des Himmels.
Um zwei Uhr trat sein stellvertretender Kommandeur auf Zehenspitzen in die Kabine, um flüsternd zu sprechen: »Herr General, ich erwarte Ihre Befehle für einen Gegenangriff.«
»Hören Sie, wie sie klirren?«
»Herr General?«
»Meine Beine. Meine dünnen Glasbeine.«
»Herr General, ich sehe wohl, der General hat etwas an seinen Beinen, aber ich möchte ergebenst und mit allem gebührenden Respekt anmerken« - nun ein wenig lauter als ein Flüstern -, »es ist nicht die Zeit, sich mit solchen Dingen zu befassen.«
»Sie glauben wohl, ich scherze, nicht wahr, Herr Leutnant? Aber wenn Ihre Beine aus Glas wären, dann würden Sie es verstehen. Ich kann nicht ans Ufer. Genau darauf setzt Kemal! Dass ich aufstehe und meine Beine zersplittern.«
»Hier sind die neuesten Berichte, Herr General.« Der stellvertretende Kommandeur hielt Hajienestis ein Blatt Papier übers Gesicht. »›Die türkische Kavallerie wurde einhundertsechzig Kilometer östlich von Smyrna gesichtet‹«, las er. »›Die Flüchtlinge zählen nunmehr 180ooo.‹ Das ist eine Steigerung um 30ooo allein seit gestern.«
»Ich habe nicht gewusst, dass der Tod so sein wird, Herr Leutnant. Ich fühle mich Ihnen nahe. Ich bin verschieden. Ich habe die Reise zum Hades hinter mir, dennoch kann ich Sie sehen. Hören Sie. Der Tod ist nicht das Ende. Das habe ich nun begriffen. Wir bleiben, wir bestehen fort. Die Toten sehen, dass ich einer von ihnen bin. Sie sind alle um mich herum. Sie, Herr Leutnant, können die Toten nicht sehen, aber sie sind da. Mütter mit Kindern, alte Frauen - alle sind sie da. Sagen Sie dem Koch, er soll mir mein Mittagessen bringen.«
Der berühmte Hafen lag voller Schiffe. An einem langen Kai waren neben Schaluppen und hölzernen Kaikis Handelsschiffe vertäut. Weiter draußen lagen die Kriegsschiffe der Verbündeten vor Anker. Ihr Anblick war für die griechischen und armenischen Bürger von Smyrna (und die Tausenden und Abertausenden griechischer Flüchtlinge) beruhigend, und immer wenn ein Gerücht die Runde machte - gestern hatte eine armenische Zeitung behauptet, die Verbündeten, erpicht darauf, ihre Unterstützung der griechischen Invasion wieder gutzumachen, hätten die Absicht, die Stadt den siegreichen Türken zu übergeben -, blickten die Bürger hinaus auf die französischen Zerstörer und britischen Schlachtschiffe, die noch immer bereit waren, die europäischen Handelsinteressen in Smyrna zu schützen, und ihre Befürchtungen schwanden ein wenig.
Dr. Nishan Philobosian hatte sich an jenem Nachmittag zum Hafen begeben, da es ihn nach eben jener Beruhigung verlangte. Er gab seiner Frau Toukhie und seinen Töchtern Rose und Anita einen Abschiedskuss; seine Söhne Karekin und
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