Middlesex
Flüchtling, der in einem Abfallhaufen zwischen Hühnerknochen und Kartoffelschalen herumstocherte. Es war ein junger Mann in einem gut geschnittenen, aber schmutzigen Anzug. Schon von weitem erkannte Dr. Philobosians Medizinerauge die Schnittwunde auf der Hand des jungen Mannes und die Blässe durch Unterernährung. Doch als der Flüchtling aufschaute, sah der Arzt dort, wo das Gesicht war, nur Leere; der Mann unterschied sich durch nichts von den anderen Flüchtlingen, von denen der Kai wimmelte. Dennoch rief der Arzt, in diese Leere starrend:
»Sind Sie krank?«
»Ich habe drei Tage nichts gegessen«, sagte der junge Mann. Der Arzt seufzte. »Kommen Sie mit.«
Er führte den Flüchtling durch Seitenstraßen zu seiner Praxis.
Er geleitete ihn hinein, holte Gaze, Desinfektionsmittel und Verbandszeug aus einem Arzneischrank und untersuchte seine Hand.
Die Wunde war am Daumen des Mannes, der Nagel fehlte.
»Wie ist das passiert?«
»Erst sind die Griechen einmarschiert«, sagte der Flüchtling.
»Dann wieder die Türken. Und dazwischen ist mir mein Daumen geraten.«
Dr. Philobosian reinigte die Wunde und sagte nichts.
»Ich muss Sie mit einem Scheck bezahlen, Herr Doktor«, sagte der Flüchtling. »Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus. Momentan habe ich nicht viel Geld bei mir.«
Dr. Philobosian langte in seine Tasche. »Ich habe ein wenig. Hier. Nehmen Sie.«
Der Flüchtling zögerte einen Moment. »Danke, Herr Doktor. Ich zahle es Ihnen zurück, sobald ich in den Vereinigten Staaten bin. Bitte geben Sie mir Ihre Adresse.«
»Achten Sie darauf, was Sie trinken.« Dr. Philobosian überhörte die Bitte. »Wenn möglich abgekochtes Wasser. So Gott will, kommen bald Schiffe.«
Der Flüchtling nickte. »Sie sind Armenier, Herr Doktor?«
»Ja.«
»Und Sie gehen nicht?«
»Smyrna ist mein Zuhause.«
»Dann viel Glück. Und Gott segne Sie.«
»Sie auch.« Und damit führte Dr. Philobosian ihn hinaus. Er sah dem Flüchtling nach. Hoffnungslos, dachte er. In einer Woche ist er tot. Wenn nicht Typhus, dann etwas anderes. Aber das ging ihn nichts an. Er griff in eine Schreibmaschine, hinter das Farbband, und zog ein dickes Bündel Geld hervor. Er durchwühlte Schreibtischschubladen, bis er in seinem Arztdiplom einen ausgebleichten, getippten Brief fand: »Mit diesem Brief wird bestätigt, dass Dr. med. Nishan Philobosian am 3. April 1919 Mustafa Kemal Pascha wegen Divertikulitis behandelt hat. Dr. Philobosian wird von Kemal Pascha der Wertschätzung, dem Vertrauen und Schutz aller Personen, denen er diesen Brief vorzeigt, mit allem Respekt empfohlen.« Der Inhaber dieses Briefes faltete ihn nun zusammen und steckte ihn in die Tasche.
Inzwischen kaufte der Flüchtling Brot in einer Bäckerei am Kai. Wo nun, als er, den warmen Laib unter dem verschmutzten Anzug verbergend, weitergeht, das vom Wasser reflektierte Sonnenlicht seine Züge erhellt und ihm Identität verleiht: die gebogene Nase, das falkenartige Gesicht, die Sanftheit in seinen Augen.
Zum ersten Mal seit seiner Ankunft in Smyrna lächelte Lefty Stephanides. Von seinen früheren Beutezügen hatte er nur einen fauligen Pfirsich und sechs Oliven mitgebracht, die Desdemona auf seine Aufforderung hin mitsamt den Kernen verschlang, um etwas im Magen zu haben. Nun drängte er sich, das sesambestreute tsoureki umklammernd, in die Menge zurück. Er passierte die Ränder von Freiluftwohnzi mmern (in denen Familien saßen und stummen Radios lauschten) und stieg über Körper, die, wie er hoffte, schliefen. Auch von einer anderen Entwicklung fühlte er sich ermutigt. Am Morgen hatte sich das Gerücht verbreitet, Griechenland schicke zur Evakuierung der Flüchtlinge eine Schiffsflotte. Lefty blickte hinaus auf die Ägäis. Zwanzig Jahre hatte er auf einem Berg gelebt und noch nie das Meer gesehen. Irgendwo jenseits des Wassers waren Amerika und seine Cousine Sourmelina. Er sog die Seeluft ein, den Geruch des warmen Brotes, des Desinfektionsmittels von seinem verbundenen Daumen, und dann sah er sie - Desdemona, auf dem Koffer sitzend, wo er sie zurückgelassen hatte - und war sogar noch glücklicher.
Lefty konnte nicht sagen, wann genau er sich die ersten Gedanken über seine Schwester gemacht hatte. Anfangs war er einfach nur neugierig gewesen, wie wohl echte Frauenbrüste aussahen. Es tat nichts zur Sache, dass es die seiner Schwester waren. Er versuchte zu vergessen, dass es die seiner Schwester waren. Hinter dem herabhängenden kelimi, der ihre Betten
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