Middlesex
einander beim Tanzen zunehmend fester hielten, aufhörten zu scherzen und dann auf eine Weise tanzten, wie ein Mann und eine Frau es unter einsamen und drängenden Umständen zuweilen tun.
Und mittendrin, noch bevor etwas offen gesagt wurde oder Entscheidungen getroffen waren (bevor das Feuer ihnen diese Entscheidungen abnahm), ja mitten in ihrem Walzer hörten sie in der Ferne Explosionen und blickten hinab und sahen im Feuerschein die griechische Armee mit allen Mann auf dem Rückzug.
EIN UNANSTÄNDIGER ANTRAG
Ich stamme von kleinasiatischen Griechen ab, bin in Amerika geboren und lebe nun in Europa. Genauer gesagt, im Berliner Bezirk Schöneberg. Der Auswärtige Dienst ist in zwei Bereiche aufgeteilt, das diplomatische Korps und die Kulturabteilung. Der Botschafter und seine Berater gestalten die Außenpolitik in der neu eröffneten, aufwendig verbarrikadierten Botschaft in der Neustädtischen Kirchstraße. Unsere Abteilung (zuständig für Lesungen, Vorträge und Konzerte) ist in dem farbenfrohen Betonkasten des Amerikahauses untergebracht.
Heute Morgen fuhr ich wie immer mit der U-Bahn zur Arbeit. Sie trug mich sanft vom Kleistpark zur Berliner Straße nach Westen und dann, nach einmal Umsteigen, weiter nach Norden Richtung Zoologischer Garten. Bahnhöfe des ehemaligen Westberlin folgten einer auf den andern. Die meisten wurden letztmals in den siebziger Jahren renoviert und haben die Farben der Vorstadtküchen meiner Kindheit: Avocado, Zimt, Sonnenblumengelb. Auch an der Spichernstraße stiegen Leute ein und aus. Auf dem Bahnsteig spielte ein Straßenmusikant auf einem Akkordeon eine tränenvolle slawische Melodie. Die Full-Brogues blank geputzt, die Haare noch feucht, blätterte ich in der Frankfurter Allgemeinen, als sie ihr Wahnsinnsfahrrad hereinschob.
Einst konnte man die Nationalität eines Menschen an seinem Gesicht erkennen. Die Einwanderung hat damit Schluss gemacht. Eine Weile erkannte man die Nationalität am Schuhwerk. Damit hat die Globalisierung Schluss gemacht. Die finnischen Robbenbabys, die deutschen Flundern - oft sieht man die nicht mehr. Nur noch Nikes, an baskischen, an holländischen, an sibirischen Füßen.
Die Radfahrerin war Asiatin, jedenfalls genetisch. Ihr schwarzes Haar war zottig geschnitten. Sie trug eine kurze olivgrüne Windjacke, eine ausgestellte schwarze Skihose und ein Paar kastanienbraune Campers, die Bowlingschuhen ähnelten. Im Fahrradkorb lag eine Kameratasche.
Ich hatte so eine Ahnung, dass sie Amerikanerin war. Das lag an dem Retro-Fahrrad. Chrom und türkis, die Schutzbleche breit wie bei einem Chevrolet, die Reifen dick wie die einer Schubkarre, sah es aus, als wöge es mindestens fünfzig Kilo. Dieses Fahrrad: der Spleen einer Exilantin. Ich wollte es schon zum Anlass nehmen, um sie in ein Gespräch zu verwickeln, als der Zug erneut hielt. Die Radfahrerin blickte auf. Ihre Haare fielen ihr aus dem schönen, von der Kapuze umrahmten Gesicht, und einen kurzen Augenblick lang begegneten sich unsere Blicke. Die Gelassenheit ihrer Miene, aber auch die Glätte ihrer Haut ließen ihr Gesicht wie eine Maske erscheinen, mit lebenden, menschlichen Augen dahinter. Diese Augen zuckten nun weg von meinen; sie packte die Lenkstange ihres Rads und schob ihr tolles Zweirad aus dem Zug in Richtung der Aufzüge. Die U-Bahn fuhr weiter, aber ich las nicht mehr. Bis zu meiner Haltestelle saß ich auf meinem Platz in einem Zustand aufgewühlter Wollust oder wollüstiger Aufgewühltheit. Dann taumelte ich hinaus.
Ich knöpfte meine Anzugjacke auf, entnahm der Innentasche meines Mantels eine Zigarre. Aus einer noch kleineren Tasche zog ich Zigarrenschneider und Streichhölzer. Obwohl es nicht nach dem Essen war, steckte ich die Zigarre an - eine Davidoff Grand Cru No. 3 - und stand rauchend da, bemüht, mich zu beruhigen. Die Zigarren, die Zweireiher - alles ein bisschen überdreht. Das ist mir durchaus bewusst. Aber ich brauche so etwas. Es geht mir besser davon. Nach allem, was ich durchgemacht habe, waren Überkompensationen zu erwarten. In meinem Maßanzug, meinem karierten Hemd rauchte ich meine mitteldicke Zigarre, bis das Feuer in meinem Blut sich gelegt hatte.
Eines sollte Ihnen klar sein: Ich bin nicht im Mindesten andro gyn. Das 5-alpha-Reduktase-Mangelsyndrom ermöglicht Biosynthese und periphere Wirksamkeit von Testosteron, im Uterus, postnatal und in der Pubertät. Mit anderen Worten, ich funktioniere in der Gesellschaft als Mann. Ich gehe aufs Männerklo. Nie ans
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