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Middlesex

Middlesex

Titel: Middlesex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffrey Eugenides
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Urinal, immer in die Kabine. Im Umkleideraum meines Fitnessclubs dusche ich sogar, wenn auch diskret. Ich besitze sämtliche sekundären Geschlechts merkmale eines ganz normalen Mannes, bis auf eines: Da ich Dihydrotestosterone nicht synthetisieren kann, bin ich immun gegen Kahlheit. Über die Hälfte meines Lebens habe ich als Mann gelebt, und inzwischen hat sich alles eingespielt. Wenn Calliope an die Oberfläche dringt, ist das wie eine kindliche Sprachstörung. Plötzlich ist sie wieder da, streicht die Haare zurück oder prüft ihre Fingernägel. Es ist ein bisschen, als wäre man besessen. Callie steigt in mir auf, trägt meine Haut wie ein weites Gewand. Sie steckt ihre kleinen Hände in die schlabberigen Ärmel meiner Arme. Sie schiebt ihre Schimpansenfüße in die Hose meiner Beine. Auf dem Gehweg merke ich, wie ihr Mädchengang die Oberhand gewinnt, und diese Bewegung weckt eine Art Emotion, eine hoffnungslose und zugleich geschwätzige Sympathie für die Mädchen, die ich von der Schule nach Hause gehen sehe. Das hält noch ein paar Schritte an. Calliopes Haare kitzeln mich im Nacken. Ich spüre, wie sie zögernd meine Brust abtastet - ihre alte nervöse Angewohnheit -, um zu spüren, ob sich dort etwas tut. Der kränkliche Saft der Pubertätsverzweiflung, der durch ihre Adern fließt, schwappt wieder in meine. Aber ebenso plötzlich verlässt sie mich, schrumpft und schmilzt in mir davon, und wenn ich mich zu einem Schaufenster drehe, um mein Spiegelbild zu sehen, ist Folgendes da: ein einundvierzig Jahre alter Mann mit längeren, gewellten Haaren, einem dünnen Schnurrbart und einem Ziegenbart. Ein moderner Musketier.
    Aber das soll jetzt über mich genügen. Ich muss fortfahren, wo die Explosionen mich gestern unterbrochen haben. Schließlich hätten ohne das, was als Nächstes geschah, weder Cal noch Calliope auf die Welt kommen können.
    »ICH HAB'S dir gesagt!«, schrie Desdemona aus vollem Hals.
    »Ich hab's dir gesagt, dieses ganze Glück ist schlecht! Wollen die uns so befreien? Bloß Griechen konnten so dumm sein!«
    Am Morgen nach dem Walzer hatte sich Desdemonas Ahnung nämlich bestätigt. Die Megali Idea war an ihr Ende gelangt. Die Türken hatten Afyon eingenommen. Die griechische Armee befand sich, geschlagen, auf der Flucht zum Meer. Auf ihrem Rückzug steckte sie alles an ihrem Weg in Brand. Desdemona und Lefty standen im Licht der Morgendämmerung am Berg und ließen den Blick über die Verwüstung schweifen. Kilometerweit stieg schwarzer Rauch aus dem Tal. Jedes Dorf, jedes Feld, jeder Baum brannte lichterloh.
    »Wir können hier nicht bleiben«, sagte Lefty. »Die Türken nehmen sicher Rache.«
    »Seit wann brauchen sie einen Anlass?«
    »Wir gehen nach Amerika. Wir können bei Sourmelina wohnen.«
    »In Amerika wird es nicht schön sein«, beharrte Desdemona und schüttelte den Kopf. »Glaub nur nicht Linas Briefen. Sie übertreibt.«
    »Solange wir zusammen sind, ist alles gut.«
    Er schaute sie an, wie am Abend zuvor, und Desdemona errötete. Er wollte den Arm um sie legen, doch sie wich ihm aus. »Sieh nur.«
    Der Rauch unten war vorübergehend dünner geworden. Sie konnten nun die Straßen sehen, verstopft von Flüchtlingen: ein Strom von Karren, Wagen, Wasserbüffeln, Maultieren und Menschen, die eilig die Stadt verließen.
    »Wo kriegen wir denn ein Schiff? In Konstantinopel?«
    »Wir gehen nach Smyrna«, sagte Lefty. »Alle sagen, der Weg nach Smyrna ist der sicherste.«
    Desdemona schwieg eine Weile, versuchte, die neue Wirklichkeit zu begreifen. In den andern Häusern grollten Stimmen - die Leute verfluchten die Griechen, die Türken und packten ihre Sachen. Plötzlich, entschlossen: »Ich nehme meine Seidenraupenkiste mit. Und ein paar Eier. Damit wir Geld verdienen können.«
    Lefty fasste sie am Ellbogen und rüttelte spielerisch ihren Arm. »In Amerika züchten sie keine Seidenraupen.«
    »Sie tragen doch Kleider, oder? Oder laufen sie nackt durch die Gegend? Wenn sie Kleider tragen, brauchen sie Seide. Und die können sie bei mir kaufen.«
    »Gut, wie du willst. Aber beeil dich.«
    Eleutherios und Desdemona Stephanides verließen Bithynios am 31. August 1922. Sie gingen zu Fuß, mit zwei Koffern voller Kleider, Toilettenartikel, Desdemonas Traumbuch und Betper len und zwei von Leftys Altgriechischtexten. Unterm Arm trug Desdemona auch noch ihre Seidenraupenkiste, die ein paar hundert in weißes Tuch geschlagene Seidenraupeneier enthielt. Die Papierschnipsel in Leftys

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