Middlesex
trennte, sah er Desdemonas Silhouette, wenn sie sich auszog. Es war nur ein Körper, er hätte jeder gehören können, jedenfalls redete Lefty sich das ein. »Was tust du denn da drüben?«, fragte Desdemona beim Ausziehen. »Warum bist du so still?«
»Ich lese.«
»Und was?«
»Die Bibel.«
»Na klar. Du liest die Bibel doch nie.«
Bald merkte er, dass er sich seine Schwester vorstellte, wenn sie das Licht gelöscht hatten. Sie war in seine Phantasien eingedrungen, aber Lefty widerstand. Stattdessen ging er, auf der Suche nach nackten Frauen, mit denen er nicht verwandt war, in die Stadt.
An dem Abend ihres Walzers jedoch hatte er seinen Widerstand aufgegeben. Wegen der Botschaften von Desdemonas Fingern, weil ihre Eltern nicht mehr lebten und man ihr Dorf zerstört hatte, weil keiner in Smyrna wusste, wer sie waren, und auch wegen der Art, wie Desdemona jetzt, als sie da auf dem Koffer saß, aussah.
Und Desdemona? Was empfand sie? Vor allem Furcht und Sorge, dazwischen nie dagewesene Ausbrüche der Freude. Noch nie hatte sie auf einer Fahrt im Ochsenkarren den Kopf in den Schoß eines Mannes gelegt. Nie hatte sie Rücken an Bauch geschlafen, im Arm eines Mannes; nie hatte sie erlebt, dass ein Mann mit etwas Hartem an ihr Rückgrat pochte und redend so tat, als wäre nichts. »Nur noch hundert Kilometer«, hatte Lefty eines Nachts auf der beschwerlichen Reise nach Smyrna gesagt. »Vielleicht haben wir morgen Glück und können bei jemandem mitfahren. Und wenn wir nach Smyrna kommen, nehmen wir ein Schiff nach Athen« - seine Stimme klang angespannt, eigenartig, ein paar Töne höher als normal -, »und von Athen aus nehmen wir ein Schiff nach Amerika. Klingt das gut? Na also. Ich glaube, das ist gut.«
Was mache ich da nur?, dachte Desdemona. Er ist doch mein Bruder! Sie blickte auf die anderen Flüchtlinge am Kai, erwartete, dass sie mit dem Finger drohten und »Schämt euch!« sagten. Doch sie zeigten ihr nur leblose Gesichter, leere Augen. Niemand wusste von etwas. Allen war es gleich. Dann hörte sie die aufgeregte Stimme ihres Bruders, als er ihr das Brot hinhielt. »Siehe da. Manna vom Himmel.«
Desdemona blickte zu ihm hoch. Ihr Mund füllte sich mit Speichel, als Lefty das tsoureki entzweibrach. Doch ihr Gesichtsausdruck blieb traurig. »Ich sehe gar keine Schiffe kommen«, sagte sie.
»Die kommen schon. Nur keine Sorge. Iss.« Lefty setzte sich neben sie auf den Koffer. Ihre Schultern berührten sich. Desdemona rutschte zur Seite.
»Was ist?«
»Nichts.«
»Jedes Mal wenn ich mich hinsetze, rutschst du zur Seite.« Er sah Desdemona verwirrt an, aber schon wurde seine Miene weicher, und er legte den Arm um sie. Sie erstarrte.
»Na schön. Wie du willst.« Er stand wieder auf.
»Wohin gehst du?«
»Noch was zum Essen suchen.«
»Geh nicht«, bat Desdemona. »Entschuldige. Ich sitze hier nicht gern allein.«
Doch Lefty war schon fortgestürmt. Er verließ den Kai und streifte, vor sich hin murmelnd, durch die Straßen der Stadt. Er war wütend auf Desdemona, weil sie ihn zurückstieß, und weil er wütend auf sie war, war er wütend auf sich selbst, denn er wusste, sie hatte Recht. Aber lange blieb er nicht wütend. Es entsprach nicht seinem Wesen. Er war müde, halb verhungert, er hatte einen rauen Hals, eine verwundete Hand, und trotzdem war Lefty noch immer zwanzig Jahre alt, auf seiner ersten richtigen Reise weg von zu Hause und offen für alles Neue um ihn herum. Hatte man den Kai erst einmal hinter sich gelassen, konnte man beinahe vergessen, wie kritisch die Lage war. Da gab es Nippesläden und Musikbars, die noch geöffnet hatten. Er ging die Rue de France entlang und fand sich auf einmal vor dem Sportclub wieder. Trotz des Ausnahmezustandes spielten hinten auf den Rasenplätzen zwei ausländische Konsuln Tennis. Im schwindenden Licht liefen sie hin und her, schlugen den Ball, und am Platzrand stand ein dunkelhäutiger Junge in einer weißen Jacke, ein Tablett mit Gin und Tonic in den Händen. Lefty ging weiter. Er kam zu einem Platz mit einem Brunnen und wusch sich das Gesicht. Wind frischte auf, er trug den Duft von Jasmin den ganzen Weg von Bournabat herein. Und während Lefty stehen bleibt, um ihn einzusaugen, möchte ich die Gelegenheit ergreifen - aus rein elegischen Gründen und nur einen Absatz lang -, die Stadt wieder aufleben zu lassen, die im Jahre 1922 ein für alle Mal verschwand. Smyrna überdauert heute in ein paar Rembetikaliedern und in einer Strophe aus Das wüste
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