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Middlesex

Middlesex

Titel: Middlesex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffrey Eugenides
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Es war seine Hand. Da Milton die Dinge nicht mehr durchdachte, erledigte nun sein Körper die Arbeit für ihn. Seine Hand schien ihm etwas sagen zu wollen. Sie äußerte Vorbehalte. »Und wenn der Kidnapper Callie gar nicht freigibt?«, sagte die Hand. Doch Milton antwortete: »Jetzt ist nicht die Zeit, an so etwas zu denken.« Wieder versuchte er, den Arm aus der Mülltonne zu ziehen, doch seine Hand weigerte sich standhaft. »Und wenn der Kidnapper das Geld nimmt und dann noch mehr will?«, fragte die Hand. »Das Risiko müssen wir eingehen«, blaffte Milton zurück und zog den Arm mit aller Kraft aus der Tonne. Die Hand ließ los, der Koffer fiel auf den Müll. Milton hastete (die Hand mitzerrend) wieder den Bahnsteig entlang und stieg in den Cadillac.
    Er ließ den Motor an. Er drehte die Heizung auf, wärmte schon mal für mich den Wagen. Er beugte sich vor und spähte durch die Windschutzscheibe in der Erwartung, dass ich jeden Augenblick erschien. Seine Hand hatte sich noch immer nicht beruhigt, grummelte vor sich hin. Milton dachte an die Aktenmappe, die dort in der Mülltonne lag. In seinem Gehirn formte sich das Bild des Geldes darin. Fünfundzwanzig Riesen! Er sah die einzelnen Stapel der Hundertdollarscheine; das sich wiederholende Gesicht Benjamin Franklins in den Doppel spiegeln dieses Geldes. Milton wurde der Hals trocken; ein Angstkrampf, allen Kindern der Wirtschaftskrise vertraut, erfasste seinen Körper, und im nächsten Augenblick sprang er aus dem Auto und rannte zum Bahnsteig zurück.
    Der Kerl wollte ein Geschäft mit ihm machen? Dann zeigte Milton ihm, wie so etwas ging. Er wollte verhandeln? Wie war's damit? (Milton stieg wieder die Stufen hinauf, Slipper klackerten auf Metall.) Statt fünfundzwanzigtausend Mäuse dort zu lassen, warum nicht zwölfeinhalbtausend? So habe ich noch ein Druckmittel. Eine Hälfte jetzt, die andere später. Warum hatte er nicht früher daran gedacht? Was war bloß los mit ihm? Er hatte zu viel um die Ohren... Doch kaum war er auf dem Bahnsteig, blieb mein Vater wie angewurzelt stehen. Keine zwanzig Meter von ihm entfernt griff eine dunkle Gestalt mit einer Pudelmütze gerade in die Mülltonne. Milton gefror das Blut in den Adern. Er wusste nicht, ob er weitergehen oder sich zurückziehen sollte. Der Kidnapper versuchte, den Aktenkoffer herauszuzerren, aber der wollte nicht durch die Schwingklappe. Er trat hinter die Tonne und hob den Metalldeckel als Ganzes ab. In der chemischen Helligkeit sah Milton den Patriarchenbart, die fahlen, wächsernen Wangen und - das Aufschlussreichste - die kleine, eins fünfundsechzig große Gestalt. Father Mike.
    Father Mike. Father Mike war der Kidnapper? Unmöglich. Unglaublich! Doch es bestand kein Zweifel. Dort auf dem Bahnsteig stand der Mann, der einstmals mit meiner Mutter verlobt gewesen und sie sich von meinem Vater hatte wegnehmen lassen. Der gerade das Lösegeld an sich nahm, war der ehemalige Seminarist, der dann Miltons Schwester Zoe geheiratet hatte, eine Wahl, die ihn zu einem Leben gehässiger Vergleiche verdammt hatte, da er von Zoe unablässig gefragt worden war, warum er nicht wie Milton in Aktien investiert oder wie Milton Gold gekauft oder wie Milton Geld auf den Cayman Inseln gebunkert habe; eine Wahl, die Father Mike zum armen Verwandten gestempelt hatte, der sich gezwungen sah, Miltons mangelnden Respekt zu erdulden, und gleichzeitig in den Genuss seiner Gastfreundschaft kam, allerdings genötigt, einen Esszimmerstuhl ins Wohnzimmer zu tragen, wenn er sich setzen wollte. Ja, es war ein großer Schock für Milton, dort auf dem Bahnsteig seinen Schwager vorzufinden. Aber es passte auch. Ihm wurde klar, warum der Entführer über die Summe hatte feilschen, warum er sich wenigstens einmal als Geschäftsmann hatte fühlen wollen und, tja, warum er von Bithynios gewusst hatte. Es erklärte zudem, warum die Anrufe immer sonntags gekommen waren, wenn Tessie nämlich in der Kirche saß, und erklärte die Musik im Hintergrund, in der Milton nun den liturgischen Gesang der Priester erkannte. Vor langer Zeit hatte mein Vater Father Mike die Verlobte weggenommen und sie geheiratet. Das Kind aus dieser Verbindung, ich, hatte Salz in diese Wunde gerieben, indem es den Priester seinerseits getauft hatte. Nun versuchte Father Mike, ihm das heimzuzahlen.
    Aber nicht wenn Milton es verhindern konnte. »He!«, schrie er und stemmte die Hände in die Hüften. »Verdammt, was ziehst du da eigentlich ab, Mike?« Father Mike gab

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