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Middlesex

Middlesex

Titel: Middlesex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffrey Eugenides
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Gustavino- Kacheln im Palm-Court-Cafe fielen ab, zersplitterten auf dem Fußboden, der riesige Friseursalon war eine Rumpelkammer, die Oberlichter waren eingedrückt und mit Unrat angefüllt. Der Büroturm, der sich an den Bahnhof anschloss, war nun ein dreizehnstöckiger Taubenschlag, sämtliche fünfhundert Fenster waren eingeschlagen, als wäre jemand mit Bedacht vorgegangen. An diesem Bahnhof waren meine Großeltern ein halbes Jahrhundert zuvor angekommen. Lefty und Desdemona hatten hier, einmal nur, ihr Geheimnis Sourmelina anvertraut; und jetzt rollte ihr Sohn, der es nie erfahren hatte, ebenfalls heimlich hinter dem Gebäude aus.
    Eine solche Szene, eine Lösegeldszene, schreit nach einer noiresken Stimmung: Schatten, finstere Silhouetten. Doch der Himmel machte nicht mit. Wir hatten eine unserer rosa Nächte. Die gab es immer mal wieder, je nach Temperatur und dem Anteil an Chemikalien in der Luft. Waren genügend Schwebstoffteilchen in der Atmosphäre, wurde das Licht, das vom Boden abstrahlte, eingefangen und zurückgeworfen, und der ganze Himmel über Detroit nahm das zarte Rosa von Zuckerwatte an. In den rosa Nächten wurde es nie dunkel, doch das Licht war völlig anders als am Tag. Unsere rosa Nächte erglühten in der rauen Luminiszenz der Nachtschicht, von Fabriken, in denen rund um die Uhr gearbeitet wurde. Manchmal war der Himmel hell wie Pepto-Bismol, häufiger aber hatte er den matteren Ton eines Weichspülmittels. Niemand fand das merkwürdig. Niemand redete davon. Wir alle waren mit rosa Nächten aufgewachsen. Sie waren kein Naturphä nomen, aber für uns waren sie natürlich.
    Unter diesem sonderbaren Nachthimmel fuhr Milton so nahe wie möglich an den Bahnsteig heran und hielt. Er stellte den Motor ab. Dann nahm er seinen Aktenkoffer und stieg in die stille, kristalline Winterluft von Michigan hinaus. Die ganze Welt war gefroren, die fernen Bäume, die Telefondrähte, das Gras in den Gärten der Häuser am Fluss, der Boden selbst. Auf dem Fluss tutete ein Frachter. Hier am Bahnhof gab es keine Geräusche, er war nachts vollständig verlassen. Milton trug seine schwarzen Slipper mit den Troddeln. Als er sich im Dunkeln angezogen hatte, hatte er es am einfachsten gefunden, in sie zu schlüpfen. Er trug auch seinen Automantel, schmutzig-beige, mit einem Pelzbesatz am Kragen. Gegen die Kälte hatte er sich einen Hut aufgesetzt, einen grauen Filz- Borsalino mit einer roten Feder im schwarzen Hutband. Jetzt, 1975, ein Seniorenhut. Mit Hut, Aktenmappe und Slippern hätte Milton auch auf dem Weg zur Arbeit sein können. Er ging zudem schnell. Er erklomm die Metalltreppe zum Bahnsteig. Er schritt ihn entlang auf der Suche nach dem Mülleimer, in den er die Tasche werfen sollte. Der Kidnapper hatte gesagt, auf den Deckel sei mit Kreide ein X gemalt.
    Milton hastete den Bahnsteig entlang, die Troddeln auf den Slippern hüpften, die kleine Feder an seinem Hut wurde vom kalten Wind gezaust. Es entspräche nicht ganz der Wahrheit, würde man sagen, dass er Angst hatte. Milton Stephanides gab nicht zu, Angst zu haben. Die physiologischen Symptome der Angst, das rasende Herz, die brennenden Achselhöhlen, sie geschahen in ihm, ohne dass er sie zur Kenntnis nahm. In diesem Punkt war er nicht der Einzige seiner Generation. Viele Väter brüllten, wenn sie Angst hatten, oder schalten ihre Kinder, um von sich abzulenken. Möglich, dass solche Eigenschaften bei der Generation, die den Krieg gewonnen hatte, unabdingbar waren. Mangelnde Introspektion war gut, um den Mut zu stärken, doch in den vergangenen Monaten und Wochen hatte das bei Milton Schäden angerichtet. Die ganze Zeit, die ich verschwunden war, hatte Milton den Unerschrockenen gespielt, während unsichtbar in ihm Zweifel nagten. Er glich einer Statue, die von innen heraus zermeißelt, ausgehöhlt wurde. Je mehr seiner Gedanken ihm Schmerzen bereiteten, desto entschie dener hatte Milton sie gemieden. Stattdessen konzentrierte er sich auf die wenigen, von denen es ihm besser ging, Plattitüden im Stile dessen, dass alles schon noch gut werde. Milton hatte ganz einfach aufgehört, die Dinge zu durchdenken. Was tat er da auf dem dunklen Bahnsteig? Warum ging er allein dorthin? Wir könnten es niemals hinreichend erklären.
    Es dauerte nicht lange, bis er den mit Kreide bezeichneten Mülleimer gefunden hatte. Rasch hob Milton den dreieckigen grünen Deckel und legte die Aktenmappe hinein. Doch als er den Arm wieder herausziehen wollte, sperrte sich etwas:

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