Middlesex
schräg.«
»So?«, sagte ich herausfordernd. »Dann nimm dir eine.«
Sie setzte sich auf den Stuhl neben mir und streckte mir ihre Hand hin. Ich nahm eine weitere Zigarre aus meinem Jackett und reichte sie ihr zusammen mit Zigarrenschneider und den Streichhölzern. Julie hielt sich die Zigarre unter die Nase und schnüffelte. Sie rollte sie zwischen den Fingern, um ihre Feuchtigkeit zu testen, knipste das Ende ab, steckte sie sich in den Mund, riss ein Streichholz an und setzte sie, regelmäßig paffend, in Gang.
»Mies van der Rohe hat auch Zigarre geraucht«, sagte ich, um Eindruck zu schinden.
»Hast du schon mal ein Bild von Mies van der Rohe gesehen?«, sagte Julie.
»Der Punkt geht an dich.«
Wir saßen, ins Innere des Museums blickend, nebeneinander, sprachen nicht, rauchten nur. Julies rechtes Knie wippte. Nach einer Weile drehte ich mich zu ihr. Sie schaute mich an.
»Gute Zigarre«, räumte sie ein.
Ich beugte mich zu ihr. Julie beugte sich zu mir. Unsere Gesichter kamen einander immer näher, bis wir uns beinahe an der Stirn berührten. So verharrten wir etwa zehn Sekunden. Dann sagte ich: »Ich möchte dir sagen, warum ich nicht angerufen habe.«
Ich holte tief Luft und begann: »Es gibt da etwas, was du über mich wissen solltest.«
1922, ALS MEINE Geschichte einsetzte, machte man sich Sorgen um das Öl. 1975, dem Jahr, in dem meine Geschichte endet, ängstigten schwindende Ölvorräte die Menschen erneut. Zwei Jahre zuvor hatte die Organisation der arabischen Erdöl exportierenden Länder mit ihrem Embargo begonnen. In den USA gab es Stromrationierungen und lange Schlangen vor den Zapfsäulen. Der Präsident erklärte, der Weihnachtsbaum vor dem Weißen Haus werde nicht leuchten, und das Tankschloss wurde geboren.
In jener Zeit lastete die Knappheit auf allen schwer. Es kam zu einer Rezession. Im ganzen Land nahmen die Menschen ihr Abendessen im Dunkeln ein, so wie wir damals in der Seminole Street unter einer Glühbirne. Dennoch war mein Vater ein entschiedener Gegner der Energiesparpolitik. Seit den Tagen, als er noch Kilowattstunden zählte, hatte Milton sich sehr verändert. Daher saß er in der Nacht, als er losfuhr, um mich auszulösen, am Steuer eines riesigen, Sprit saufenden Cadillac.
Der letzte Cadillac meines Vaters: ein 1975er Eldorado. Mit seinem mitternachtsblauen Lack, der nahezu schwarz wirkte, hatte der Wagen eine starke Ähnlichkeit mit dem Batmobil. Milton hatte alle Türen verriegelt. Es war kurz nach zwei Uhr morgens. Die Straßen in diesem Viertel am Fluss waren voller Schlaglöcher, die Rinnsteine erstickten in Unkraut und Müll. Die mächtigen Scheinwerfer erfassten Glasscherben auf dem Asphalt, außerdem Nägel, Metallstücke, alte Radkappen, Blechdosen, eine platt gefahrene Männerunterhose. Unter einer Überführung stand ein ausgeweidetes Auto ohne Reifen, mit zerborstener Windschutzscheibe, aller Chromzierrat war abgeschält, und auch der Motor fehlte. Milton trat aufs Gaspedal, ignorierte nicht nur die Knappheit von Petroleum, sondern auch vieler anderer Dinge. Zum Beispiel die Knappheit von Hoffnung in der Middlesex, wo seine Frau keine Regungen in ihrem geistigen Umbilicus mehr spürte. Im Kühlschrank herrschte Knappheit an Nahrungsmitteln, in den Schränken an Knabberzeug und in seiner Kommode an frisch gebügelten Hemden und sauberen Socken. Es herrschte eine Knappheit an gesellschaftlichen Einladungen und Anrufen, da die Freunde meiner Eltern sich zunehmend davor fürchteten, in einem Haus anzurufen, das in einem Zwischenreich zwischen Überschwang und Trauer dahinvegetierte. Wider den Druck all dieser Knappheiten jagte Milton den Motor des Eldorado hoch, und als das nicht genügte, öffnete er den Aktenkoffer auf dem Sitz neben ihm und starrte im Schein der Armaturen auf die fünfundzwanzigtausend Dollar in bar, die gebündelt darin lagen.
Meine Mutter war wach gewesen, als Milton eine knappe Stunde davor aus dem Bett geschlüpft war. Auf dem Rücken liegend hatte sie gehört, wie er sich im Dunkeln anzog. Sie hatte ihn nicht gefragt, warum er mitten in der Nacht aufstand. Früher einmal hätte sie das getan, aber jetzt nicht mehr. Seit meinem Verschwinden hatte sich die alltägliche Routine aufgelöst. Milton und Tessie saßen oft morgens um vier in der Küche und tranken Kaffee. Erst als Tessie die Haustür gehen hörte, wurde sie unruhig. Gleich darauf sprang Miltons Wagen an und setzte die Einfahrt zurück. Meine Mutter horchte, bis das
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