Middlesex
Motorengeräusch verklungen war. Sie dachte mit überraschender Gelassenheit: »Vielleicht fährt er ja endgültig weg.« Ihrer Liste mit weggelaufenem Vater und weggelaufener Tochter fügte sie nun eine weitere Möglichkeit hinzu: weggelaufener Ehemann.
Milton hatte Tessie aus einer Reihe von Gründen nicht gesagt, wohin er fuhr. Erstens fürchtete er, sie könnte ihn aufhalten. Sie würde ihm sagen, er solle die Polizei anrufen, was er nicht wollte. Der Kidnapper hatte gesagt, keine Bullen. Außerdem hatte Milton genug von Cops und ihrem blasierten Getue. Man kriegte nur etwas, wenn man es selbst in die Hände nahm. Außerdem konnte die ganze Geschichte auch ein Schuss in den Ofen sein. Wenn er Tessie etwas gesagt hätte, hätte sie sich nur Sorgen gemacht. Dann riefe sie womöglich noch Zoe an, und er würde von seiner Schwester etwas zu hören bekommen. Kurz, Milton tat, was er immer tat, wenn es um wichtige Entscheidungen ging. Wie damals, als er zur Navy ging oder mit uns allen nach Grosse Pointe zog, tat Milton, was er wollte, und vertraute darauf, dass es das Beste war.
Nach dem letzten mysteriösen Anruf hatte Milton auf einen weiteren gewartet. Am nächsten Sonntagmorgen kam er.
»Hallo?«
»Guten Morgen, Milton.«
»Hören Sie, wer Sie auch sind. Ich will Antworten.«
»Ich rufe nicht an, um zu erfahren, was du willst, Milton. Wichtig ist, was ich will.«
»Ich will meine Tochter. Wo ist sie?«
»Sie ist hier bei mir.«
Die Musik oder der Gesang war noch immer im Hintergrund vernehmbar. Sie erinnerte Milton an etwas längst Vergangenes.
»Woher soll ich wissen, dass Sie sie haben?«
»Dann fragen Sie mich doch mal was. Sie hat mir viel über ihre Familie erzählt. Sehr viel.«
Die Wut, die nun in Milton aufbrandete, war schier unerträglich. Er konnte sich gerade noch zurückhalten, das Telefon auf den Schreibtisch zu knallen. Gleichzeitig überlegte, taktierte er.
»Wie heißt das Dorf, aus dem ihre Großeltern stammten?«
»Einen Augenblick.« Das Telefon wurde abgedeckt. Dann sagte die Stimme: »Bithynios.«
Milton bekam weiche Knie. Er setzte sich an den Schreibtisch.
»Glaubst du mir jetzt, Milton?«
»Wir sind mal zu solchen Höhlen in Tennessee gefahren. Eine richtige Touristenfalle. Wie heißen sie?«
Erneut wurde das Telefon zugehalten. Gleich darauf antwortete die Stimme: »Die Mammothonics-Höhlen.«
Milton sprang wieder auf. Sein Gesicht verdunkelte sich, und er zerrte an seinem Kragen, um besser atmen zu können.
»Jetzt habe aber ich eine Frage, Milton.«
»Was?«
»Wie viel ist es dir wert, deine Tochter zurückzubekommen?«
»Wie viel wollen Sie?«
»Wird das jetzt ein Geschäft? Machen wir einen Deal?«
»Ich bin bereit.«
»Wie aufregend.«
»Was wollen Sie?«
»Fünfundzwanzigtausend Dollar.«
»In Ordnung.«
»Nein, Milton«, korrigierte die Stimme, »du verstehst nicht. Ich will handeln.«
»Was?«
»Feilschen, Milton. Wir machen doch ein Geschäft.«
Milton war perplex. Er schüttelte den Kopf über diese sonderbare Bitte. Aber dann erfüllte er sie.
»Na schön. Fünfundzwanzig ist zu viel. Ich zahle dreizehntau send.«
»Wir reden hier über deine Tochter, Milton. Nicht über Hot dogs.«
»So viel Bargeld habe ich nicht.«
»Vielleicht nehme ich auch nur zweiundzwanzigtausend.«
»Ich geb Ihnen fünfzehn.«
»Unter zwanzig kann ich nicht gehen.«
»Siebzehn ist mein letztes Angebot.«
»Wie war's mit neunzehn?«
»Achtzehn.«
»Achtzehn fünf.«
»Abgemacht.«
Der Anrufer lachte. »Ah, das hat Spaß gemacht, Milt.« Dann, mit barscher Stimme: »Aber ich will fünfundzwanzig.« Und er legte auf.
1933 hatte eine körperlose Stimme durch den Heizungsrost zu meiner Großmutter gesprochen. Nun, zweiundvierzig Jahre später, sprach eine verfremdete Stimme durchs Telefon zu meinem Vater.
»Guten Morgen, Milton.«
Da war die Musik wieder, das leise Singen.
»Ich hab das Geld«, sagte Milton. »Jetzt will ich mein Mädchen.«
»Morgen Nacht«, sagte der Kidnapper. Und dann sagte er Milton, wo er das Geld hinterlassen und wo er auf mich warten solle.
Von dem tief liegenden Flachland am Fluss erhob sich vor Miltons Cadillac die Grand Trunk Station. 1975 war der Bahnhof, gerade noch, in Betrieb. Der einstmals opulente Kopfbahnhof war zum Gemäuer geworden. Falsche Amtrak- Fassaden verbargen die flockigen, bröckelnden Wände. Die meisten Gänge waren abgesperrt. Derweil verfiel das große alte Gebäude rund um den betrieblichen Kern, die
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