Middlesex
Wesentlichen ankam: dass man, um glücklich zu sein, Vielfalt in der Wiederholung finden muss; dass man, um voranzukommen, gut daran tut, an den gemeinsamen Ausgangspunkt zurückzukehren.
Im Falle meiner Großeltern aber verlief das Kreisen so: Als sie auf dem Deck zum ersten Mal im Kreis gingen, waren Lefty und Desdemona noch Bruder und Schwester. Beim zweiten Mal waren sie Braut und Bräutigam. Und beim dritten waren sie Mann und Frau.
Am Abend des Tages, an dem meine Großeltern heirateten, ging die Sonne genau vor dem Bug des Schiffes unter, wies den Weg nach New York. Der Mond ging auf, warf einen silbernen Streifen über den Ozean. Auf seiner abendlichen Runde übers Deck stieg Kapitän Kontoulis vom Steuerhaus herab und marschierte los. Der Wind hatte aufgefrischt. Die Giulia stampfte in schwerer See. Das Deck neigte sich vor und zurück, doch Kapitän Kontoulis taumelte nicht einmal und vermochte sich sogar eine seiner geliebten indonesischen Zigaretten anzuzünden, wobei er den betressten Schild seiner Mütze senkte, als Schutz vor dem Wind. In seiner nicht sonderlich sauberen Uniform und den kniehohen kretischen Stiefeln überprüfte Kapitän Kontoulis Positionslichter, gestapelte Deckstühle, Rettungsboote. Die Giulia war allein auf dem weiten Atlantik, ihre Luken dicht gegen die Brecher, die auf die Seitenwände krachten. Das Deck war leer bis auf zwei Passagiere aus der ersten Klasse, amerikanische Geschäftsleute, die, von Plaids gewärmt, gemeinsam einen Schlummertrunk einnahmen. »Nach allem, was ich höre, spielt Tilden mit seinen Schützlingen nicht nur Tennis, wenn Sie verstehen, was ich meine.« - »Sie machen Witze.« - »Lässt sie aus seinem Pokal trinken.« Kapitän Kontoulis, der nichts davon verstand, nickte ihnen im Vorbeigehen zu...
In einem der Rettungsboote sagte Desdemona: »Nicht gucken.« Sie lag auf dem Rücken. Zwischen ihnen war keine Ziegenhaardecke, also hielt sich Lefty die Augen mit den Händen zu und spähte durch die Finger. Ein Nadelloch in der Persenning ließ Mondlicht durch, das langsam das Rettungsboot erfüllte. Lefty hatte oft gesehen, wie Desdemona sich auszog, aber meist nur als Schatten und niemals im Mondlicht. Nie hatte sie sich so auf dem Rücken gekrümmt, die Füße in der Luft, um die Schuhe auszuziehen. Er beobachtete sie und war, als sie den Rock abstreifte und ihren Kasack zur Seite legte, verblüfft, wie anders seine Schwester aussah, im Mondlicht, in einem Rettungsboot. Sie leuchtete. Sie verströmte weißes Licht. Er blinzelte hinter seinen Händen. Das Mondlicht wurde immer heller, es bedeckte seinen Hals, erreichte seine Augen, bis er begriff: Desdemona trug ein Korsett. Das war das andere, das sie mitgebracht hatte: Das weiße Tuch, das ihre Seidenraupeneier umhüllte, war nichts anderes als Desdemonas Hochzeitskorsett. Sie hatte geglaubt, sie würde es niemals tragen, doch nun hatte sie es an. Büstenhalterkörbchen zeigten Richtung Segeltuchdach. Fischbeinstäbe pressten ihre Taille zusammen. Vom Saum des Korsetts hingen Strapse, an denen nichts befestigt war, weil meine Großmutter keine Strümpfe besaß. In dem Rettungsboot sog das Korsett alles Mondlicht mit dem eigenartigen Ergebnis auf, dass Desdemonas Gesicht, Kopf und Arme verschwanden. Sie sah aus wie eine geflügelte Viktoria, die, auf denmRücken gekippt, ins Kunstmuseum eines Eroberers fortgeschafft wird. Das Einzige, was fehlte, waren die Flügel.
Lefty zog Schuhe und Socken aus, Sand regnete herab. Als er seine Unterwäsche auszog, strömte durch das Rettungsboot ein pilziger Geruch. Er genierte sich kurz, doch Desdemona schien sich nicht daran zu stören.
Sie war von ihren eigenen gemischten Gefühlen abgelenkt. Das Korsett erinnerte Desdemona natürlich an ihre Mutter, und plötzlich überfiel sie der Gedanke, wie falsch es war, was sie da taten. Bis dahin hatte sie ihn in Schach gehalten. Im Wirrwarr der vergangenen Tage hatte sie nicht die Zeit gehabt, sich mit ihm zu beschäftigen.
Auch Lefty war zerrissen. Wenngleich ihm Gedanken an Desdemona keine Ruhe gelassen hatten, war er doch froh, dass es im Rettungsboot dunkel war, ja dass er ihr Gesicht nicht sehen konnte. Monatelang hatte Lefty mit Huren geschlafen, die Desdemona ähnlich sahen, nun aber fand er es einfacher, so zu tun, als kenne er sie nicht.
Das Korsett schien Hände zu haben. Eine Hand rieb sie sanft zwischen den Beinen. Zwei weitere umfassten ihre Brüste, ein, zwei, drei Hände drückten und liebkosten sie,
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