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Middlesex

Middlesex

Titel: Middlesex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffrey Eugenides
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Jean Bart im Hafen von Athen anlegen. Ich sehe meine Großeltern wieder an Land, wo sie Vorbereitungen für eine zweite Reise treffen. Pässe werden in Hände gedrückt, Impfungen an Oberarmen vorgenommen. Ein weiteres Schiff nimmt am Kai Gestalt an, die Giulia. Ein Nebelhorn ertönt.
    Und da: Vom Deck der Giulia spult sich etwas anderes ab. Etwas Buntes, das sich über die Gewässer vor Piräus ausspinnt.
    Es war in jenen Tagen Brauch bei Passagieren, die nach Amerika auswanderten, Garnknäuel mit an Deck zu bringen. Verwandte an der Pier hielten das lose Ende fest. Als die Giulia das Horn ertönen ließ und sich vom Kai entfernte, spannten sich einige hundert Garnschnüre übers Wasser. Abschieds grüße wurden geschrien, Säuglinge für einen letzten Blick, an den sie sich nicht mehr erinnern würden, hochgehalten, ausgelassen wurde gewinkt. Schiffsschrauben mahlten, Taschentücher flatterten, und auf dem Deck begannen sich die Garnknäuel abzuspulen. Rot, gelb, blau, grün wickelten sie sich zur Pier hin ab, zunächst langsam, alle zehn Sekunden eine Umdrehung, dann immer schneller, während das Schiff Fahrt aufnahm. Die Passagiere hielten das Garn so lange wie nur möglich, hielten Verbindung zu den Gesichtern, die an Land verschwanden. Aber schließlich liefen die Knäuel, eines nach dem anderen, aus. Die Garnfäden flogen fort, stiegen auf im Wind.
    Von zwei verschiedenen Stellen am Deck der Giulia sahen Lefty und Desdemona - und ich kann jetzt endlich sagen, meine Großeltern - zu, wie die luftige Decke davonwehte. Desdemona stand zwischen zwei Lüfterhauben in der Form riesiger Posaunen. Mittschiffs drückte sich Lefty bei einigen Junggesellen herum. In den drei Stunden davor hatten sie einander nicht gesehen. Am Morgen hatten sie in einem Kafenion am Hafen einen Kaffee getrunken, bevor sie wie professionelle Spione ihren jeweiligen Koffer genommen hatten - Desdemona auch ihre Seidenraupenkiste - und in unterschiedliche Richtungen fortgegangen waren. Meine Großmutter hatte gefälschte Papiere bei sich. In ihrem Pass, den ihr die griechische Regierung mit der Auflage ausgestellt hatte, sofort das Land zu verlassen, stand als Name der Mädchenname ihrer Mutter, Aristos, und nicht Stephanides. Zusammen mit ihrer Bordkarte hatte sie diesen Pass oben an der Gangway der Giulia vorgezeigt. Dann war sie, wie besprochen, zur Verabschiedung des Schiffs nach achtern gegangen.
    In der Fahrrinne ertönte das Nebelhorn erneut, dann schwenkte das Schiff nach Westen und nahm Fahrt auf. Trachtenröcke, Tücher und Anzugjacken flatterten im Wind. Begleitet von Rufen und Gelächter flogen Hüte von Köpfen. Garn wehte, kaum noch sichtbar, als Treibnetz am Himmel. Die Menschen schauten, solange sie etwas erkennen konnten. Desdemona war eine der Ersten, die nach unten gingen. -Lefty blieb noch eine halbe Stunde an Deck. Auch das gehörte zum Plan.
    Am ersten Tag auf See sprachen sie nicht miteinander. Sie kamen zu den festen Essenszeiten an Deck und stellten sich in verschiedene Schlangen. Nach dem Essen gesellte sich Lefty zu den Männern, die rauchend an der Reling standen, während Desdemona sich an Deck mit den Frauen und Kindern im Windschatten aufhielt. »Haben Sie jemand, der Sie abholt?«, fragten die Frauen. »Einen Verlobten?«
    »Nein. Nur meine Cousine in Detroit.«
    »Sie reisen ganz allein?«, fragten die Männer Lefty.
    »Das stimmt. Sorglos und frei.«
    Abends stiegen sie zu ihrem jeweiligen Schlafbereich hinab. Auf getrennten Liegen aus Seegras, das in Sackleinen geschlagen war, mit der Schwimmweste als Kopfkissen, versuchten sie zu schlafen, sich an die Bewegung des Schiffs zu gewöhnen, die Gerüche zu ertragen. Die Passagiere hatten alle möglichen Gewürze und Leckereien mit an Bord gebracht, eingelegte Sardinen, Tintenfisch in Weinsoße, mit Knoblauchzehen konservierte Lammkeulen. In jenen Tagen konnte man die Nationalität eines Menschen am Geruch erkennen. Auf dem Rücken liegend, die Augen geschlossen, witterte Desdemona zu ihrer Rechten das verräterische Zwiebelaroma einer Ungarin und zu ihrer Linken den Geruch einer Armenierin nach rohem Fleisch. (Und sie wiederum konnten Desdemona mit ihrem Aroma aus Knoblauch und Joghurt als Hellenin ausmachen.) Leftys Ärgernisse waren sowohl olfaktorischer als auch akustischer Natur. Auf einer Seite lag ein Mann namens Callas, der schnarchte, als wäre er ein kleines Nebelhorn, auf der anderen Dr. Philobosian, der im Schlaf weinte. Seit ihrer Abreise aus Smyrna

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