Middlesex
war der Arzt außer sich vor Gram. Zerquält lag er, wie nach einem Tritt in den Magen, eingerollt in seinem Mantel da, die Augenhöhlen blau. Er aß fast nichts. Er weigerte sich, an Deck zu gehen und frische Luft zu schnappen. Wenn er, was selten vorkam, doch einmal ging, drohte er, sich über Bord zu stürzen.
In Athen hatte Dr. Philobosian ihnen gesagt, sie sollten ihn sich selbst überlassen. Er weigerte sich, Pläne für die Zukunft zu schmieden, sagte, er habe nirgendwo Familie. »Meine Familie ist tot. Sie haben sie ermordet.«
»Der arme Mann«, sagte Desdemona. »Er will nicht mehr leben.«
»Wir müssen ihm helfen«, beharrte Lefty. »Er hat mir Geld gegeben. Er hat mir meine Hand verbunden. Niemand sonst hat sich um uns gekümmert. Wir nehmen ihn mit.« Während sie daraufwarteten, dass ihre Cousine ihnen Geld anwies, versuchte Lefty, den Arzt zu trösten, und überredete ihn schließlich, mit ihnen nach Detroit zu kommen. »Hauptsache weit weg«, sagte Dr. Philobosian. Aber jetzt auf dem Schiff sprach er nur vom Tod.
Die Reise sollte zwölf bis vierzehn Tage dauern. Lefty und Desdemona hatten ihren Plan genau durchdacht. Am zweiten Tag auf See, gleich nach dem Abendessen, machte Lefty einen Rundgang übers Schiff. Er bahnte sich seinen Weg zwischen den Leibern hindurch, die sich überall auf dem Zwischendeck ausgestreckt hatten. Er ließ die Treppe zum Steuerhaus hinter sich und zwängte sich an der zusätzlichen Fracht vorbei, Kisten mit Kalamata-Oliven und Olivenöl, Schwämmen aus Kos. Er ging weiter, seine Hand über die grüne Persenning der Rettungsboote streichend, bis ihn die Kette aufhielt, die das Zwischendeck von der dritten Klasse trennte. In ihren besten Tagen hatte die Giulia zur Austro-Hungarian Line gehört. Damals hatte sie über alle modernen Errungenschaften verfügt (»liumina electrica, ventilatie et comfortu cel mai mare«) und war einmal monatlich von Triest nach New York gefahren. Nun brannte das elektrische Licht bloß noch in der ersten Klasse, und auch da nur sporadisch. Die Eisengeländer waren verrostet. Der Rauch vom Schornstein hatte die griechische Flagge beschmutzt. Das Schiff roch nach alten Scheuereimern und Jahren der Seekrankheit. Lefty war noch nicht ganz sicher auf den Beinen. Immer wieder torkelte er gegen die Reling. Er blieb eine Weile an der Kette stehen, ging dann nach Backbord hinüber und wieder nach achtern zurück. Desdemona stand, wie vereinbart, allein an der Reling. Im Vorbeigehen nickte Lefty ihr lächelnd zu. Sie nickte kühl und schaute wieder aufs Meer.
Am dritten Tag unternahm Lefty nach dem Essen einen weiteren Rundgang. Er ging vor zur Kette, dann nach Backbord und weiter nach achtern. Wiederum nickte er Desdemona lächelnd zu. Diesmal lächelte Desdemona zurück. Als er wieder zu seinen Raucherkumpanen stieß, erkundigte sich Lefty, ob jemand vielleicht zufällig den Namen der jungen Frau kenne, die allein reise.
Am vierten Tag blieb Lefty stehen und stellte sich vor.
»Bisher war das Wetter ja gut.«
»Ich hoffe, es bleibt so.«
»Sie reisen allein?«
»Ja.«
»Ich auch. Wo soll's denn in Amerika hingehen?«
»Detroit.«
»Na, so ein Zufall. Ich will auch nach Detroit.«
Sie plauderten noch ein paar Minuten. Dann entschuldigte sich Desdemona und ging nach unten.
Rasch verbreitete sich auf dem Schiff das Gerücht von der knospenden Romanze. Zum Zeitvertreib erörterte bald jedermann, wieso sich der hoch gewachsene junge Grieche mit den feinen Manieren in die dunkle Schönheit verliebt hatte, die nirgendwo ohne ihre geschnitzte Olivenholzkiste zu sehen war.
»Beide reisen sie allein«, sagten die Leute. »Und beide haben sie Verwandte in Detroit.«
»Ich glaube nicht, dass sie zueinander passen.«
»Warum nicht?«
»Er ist von besserer Herkunft als sie. Das klappt nie.«
»Aber er scheint sie zu mögen.«
»Er ist auf einem Schiff mitten auf dem Ozean! Was hat er denn sonst zu tun?«
Am fünften Tag spazierten Lefty und Desdemona gemeinsam übers Deck. Am sechsten Tag bot er ihr den Arm an, und sie hakte sich unter.
»Ich habe sie einander vorgestellt!«, brüstete sich einer. Junge Frauen aus der Stadt rümpften die Nase. »Sie trägt Zöpfe. Sie sieht aus wie eine Bäuerin.«
Mein Großvater kam bei ihnen im Großen und Ganzen besser an. Es hieß, er sei Seidenkaufmann in Smyrna gewesen und habe sein Vermögen in dem Brand verloren, sei ein Sohn König Konstantins I. von einer französischen Mätresse, sei im Großen
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