Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Middlesex

Middlesex

Titel: Middlesex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffrey Eugenides
Vom Netzwerk:
Krieg ein Spion des Kaisers gewesen. Lefty trat keiner dieser Spekulationen entgegen. Er ergriff die Gelegenheit der transatlantischen Reise, um sich neu zu erfinden. Er legte sich eine zerschlissene Decke um die Schultern wie eine Opernpelerine. In dem Bewusstsein, dass alles, was nun geschah, zur Wahrheit werden würde, dass alles, was er zu sein schien, zu dem werden würde, was er war - ein Amerikaner also -, wartete er darauf, dass Desdemona an Deck auftauchte. Als sie kam, rückte er seinen Umhang zurecht, nickte seinen Schiffsgefährten zu und schlenderte übers Deck, um ihr seine Aufwartung zu machen.
    »Er ist hin und weg von ihr!«
    »Ich glaube nicht. Leute wie der, die sind doch bloß auf ein bisschen Spaß aus. Das Mädchen sollte sich mal vorsehen, sonst trägt sie bald mehr mit sich herum als diese Kiste da.«
    Meine Großeltern genossen ihr vorgetäuschtes Werben. Wenn Leute in Hörweite waren, betrieben sie Konversation wie bei der ersten oder zweiten Begegnung, dachten sich füreinander eine Vorgeschichte aus. »Und«, fragte Lefty etwa, »haben Sie Geschwister?«
    »Ich hatte einen Bruder«, antwortete Desdemona wehmütig.
    »Er ist mit einem türkischen Mädchen durchgebrannt. Mein Vater hat ihn enterbt.«
    »Das ist aber streng. Ich finde, die Liebe bricht alle Tabus. Meinen Sie nicht?«
    Allein, sagten sie zueinander: »Ich glaube, es funktioniert. Niemand schöpft Verdacht.«
    Jedes Mal, wenn Lefty Desdemona an Deck traf, tat er, als habe er sie erst kürzlich kennen gelernt. Er ging zu ihr hin, sagte etwas Unverbindliches, kommentierte die Schönheit des Sonnenuntergangs und leitete galant zu der Schönheit ihres Gesichts über. Auch Desdemona spielte ihre Rolle. Anfangs war sie reserviert. Machte er einen schlüpfrigen Witz, zog sie den Arm zurück. Sie sagte, ihre Mutter habe sie vor Männern wie ihm gewarnt. Auf der ganzen Überfahrt spielten sie diesen Phantasieflirt durch, und ganz allmählich glaubten auch sie ihn. Sie ersannen Erinnerungen, improvisierten ein Schicksal. (Warum taten sie das? Warum nahmen sie solche Mühen auf sich? Hätten sie nicht auch sagen können, sie seien schon verlobt? Oder dass ihre Ehe bereits Jahre vorher arrangiert worden sei? Ja, natürlich hätten sie das tun können. Aber sie wollten ja nicht die anderen Reisenden täuschen, sondern sich selbst.)
    Das Reisen machte es ihnen leichter. Den Ozean zusammen mit einem halben Tausend Fremder zu überqueren vermittelte ihnen eine Anonymität, in der meine Großeltern sich neu erschaffen konnten. Der Antrieb aller auf der Giulia war Selbstverwandlung. Den Blick aufs Meer gerichtet, phantasierten sich Tabakbauern zu Rennfahrern, Seidenfärber zu Wall-Street-Magnaten, Putzwarenverkäuferinnen zu Fächertänzerinnen bei den Ziegfeld Follies. Grauer Ozean dehnte sich in alle Richtungen. Europa und Kleinasien waren weit hinter ihnen. Vor ihnen lagen Amerika und neue Horizonte.
    Am achten Tag auf See ging Lefty Stephanides vor Desdemo na, die auf einer Tauklampe saß, unter den Augen von sechshundertdreiundsechzig Zwischendeckspassagieren feier lich auf die Knie und machte ihr einen Heiratsantrag. Junge Frauen hielten den Atem an. Ehemänner zupften an Junggesellen: »Sehen Sie sich das genau an, da können Sie was lernen.« Meine Großmutter, ein schauspielerisches Talent offenbarend, das mit ihrer Hypochondrie verwandt war, zeigte vielschichtige Emotionen: Überraschung, anfängliche Freude, Bedenken, besonnene Beinahe-Ablehnung und dann, der Applaus brandete schon auf, benommenes Einwilligen.
    Die Zeremonie fand an Deck statt. Anstelle eines Hochzeitskleids trug Desdemona einen geliehenen Seidenschal über dem Kopf. Kapitän Kontoulis lieh Lefty eine mit Soßenflecken gesprenkelte Krawatte. »Lassen Sie die Jacke zugeknöpft, dann sieht's keiner«, sagte er. Als stephana hatten meine Großeltern aus Schnur geflochtene Hochzeitskronen. Auf See waren keine Blumen erhältlich, also setzte der koumbaros, ein Mann namens Pelos, der den Brautführer abgab, die Hanfkrone des Königs der Königin auf den Kopf, die der Königin dem König und wieder umgekehrt.
    Braut und Bräutigam tanzten den Tanz Jesaias. Hüfte an Hüfte, die Arme verschlungen und die Hände haltend, so umschritten Desdemona und Lefty den Kapitän, einmal, zweimal, dann noch einmal, spannen den Kokon ihres Lebens. Von einer patriarchalischen Linearität konnte keine Rede sein. Wir Griechen heiraten im Kreis, um uns einzuprägen, worauf es in der Ehe im

Weitere Kostenlose Bücher