Middlesex
und in der Wäsche sah Desdemona sich mit neuen Augen, ihre schmale Taille, ihre massigen Schenkel; sie fand sich schön, begehrenswert, vor allem aber: fremd. Sie hob die Füße, legte die Waden auf die Dollen. Sie spreizte die Beine. Sie öffnete die Arme für Lefty, der sich zu ihr hindrehte, sich Knie und Ellbogen aufscheuerte, Ruder wegschob, bis er schließlich verzückt in ihre Weichheit sank. Zum ersten Mal schmeckte Desdemona das Aroma seines Mundes, und das einzige Schwesterliche, das sie während ihres Liebesspiels tat, war, nach Luft schnappend zu sagen: »Du Schlimmer. Das hast du schon öfter gemacht.« Aber Lefty wiederholte immer nur: »Nicht so, nicht so...«
Und ich hatte vorhin Unrecht, ich nehme es zurück. Unter Desdemona, im Takt gegen die Planken schlagend und sie hebend: ein Paar Flügel.
»Lefty!« Desdemona nun, atemlos. »Ich glaube, ich hab's gespürt.«
»Was gespürt?«
»Na, du weißt schon. Dieses Gefühl.«
»Frisch verheiratet«, sagte Kapitän Kontoulis, den Blick auf dem schaukelnden Rettungsboot. »Ach, wäre man doch wieder jung.«
Nachdem Prinzessin Si Ling-chi - die ich mir, wie ich merke, als kaiserliches Gegenstück zu der Radfahrerin ausmale, die ich neulich in der U-Bahn gesehen habe; aus irgendeinem Grund muss ich immerzu an sie denken, jeden Morgen halte ich Ausschau nach ihr -, nachdem also Prinzessin Si Ling-chi die Seide entdeckt hatte, hielt ihre Nation sie dreitausendeinhundertneunzig Jahre lang geheim. Jeden, der den Versuch unternahm, Seidenraupeneier aus China zu schmuggeln, erwartete die Todesstrafe. Meine Familie hätte wohl niemals Seidenraupen gezüchtet, wäre nicht Kaiser Justinian gewesen, der Procopius zufolge zwei Missionare überredete, das Risiko auf sich zu nehmen. Im Jahre 550 n. Chr. schmuggelten die Missionare Seidenraupeneier im verschluckten Kondom jener Zeit, einem hohlen Stock, aus China heraus. Auch die Samen des Maulbeerbaums brachten sie mit. So kam es, dass Byzanz zu einem Zentrum der Seidenraupenzucht wurde. An türkischen Hängen blühten Maulbeerbäume. Seidenraupen fraßen die Blätter. Vierzehnhundert Jahre später füllten die Nachkommen jener ersten gestohlenen Eier die Seidenraupenkiste meiner Großmutter auf der Giulia.
Auch ich bin der Nachkomme eines Schmuggelunter nehmens. Ohne sich dessen bewusst zu sein, trugen meine Großeltern auf ihrem Weg nach Amerika beide ein einzelnes mutiertes Gen auf dem Chromosom fünf. Es war keine neue Mutation. Dr. Luce war der Auffassung, dass das Gen in meinem Erbgut erstmals um 1750 auftauchte, nämlich im Körper einer gewissen Penelope Evangelatos, meiner Urgroßmutter in der neunten Potenz. Sie gab es an ihren Sohn Petras weiter, der es wiederum an seine zwei Töchter weitergab, die es an drei ihrer fünf Kinder weitergaben, und so weiter und so fort. Da es rezessiv war, war seine Ausprägung wohl unregelmäßig. Sporadische Erblichkeit nennen Genetiker das. Ein Merkmal, das Jahrzehnte lang untertaucht, nur um dann, wenn alle es vergessen haben, aufs Neue zu erscheinen. So war das in Bithynios. Immer wieder wurde dort ein Hermaphrodit geboren, scheinbar ein Mädchen, das sich, als es heranwuchs, als etwas anderes erwies.
Während der nächsten sechs Nächte hatten meine Großeltern, unter verschiedenen meteorologischen Bedingungen, ihr Stelldichein in dem Rettungsboot. Tagsüber, wenn Desdemona an Deck saß und überlegte, ob sie und Lefty für all das verantwortlich waren, flackerte ihr Schuldgefühl wieder auf, aber nachts fühlte sie sich einsam und wollte der Kabine entfliehen, sodass sie sich in das Rettungsboot zu ihrem frisch angetrauten Ehemann stahl.
Ihre Hochzeitsreise verlief im Rückwärtsgang. Statt einander kennen zu lernen, sich mit Vorlieben und Abneigungen, kitzligen Stellen, heiklen Themen vertraut zu machen, versuchten Desdemona und Lefty, einander fremd zu werden. Im Geiste ihres Schwindels da an Bord spannen sie füreinander falsche Vorgeschichten aus, erfanden Brüder und Schwestern mit plausiblen Namen, Cousins und Cousinen mit sittlichen Unzulänglichkeiten, Verwandte mit nervösen Zuckungen im Gesicht. Abwechselnd trugen sie einander homerische Stammbäume vor, voller Fälschungen und Anleihen beim richtigen Leben, und manchmal stritten sie sich um diesen oder jenen Lieblingsonkel, diese oder jene Lieblingstante und mussten wie beim Casting feilschen. Nach und nach, mit jeder Nacht ein wenig mehr, nahmen diese fiktiven Verwandten Gestalt in ihren Köpfen an.
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