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Middlesex

Middlesex

Titel: Middlesex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffrey Eugenides
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Eichhörnchen auf Telefonleitungen erstarren, wachsam recken sie den Kopf, um zu lauschen. Er lässt das Laub von Apfelbäumen rascheln und einen Wetterhahn rotieren. Mit seinem schnellen Beat und der wirbelnden Melodie steigt »Begin the Beguine« über die Gemüsegärten der Heimatfront und die Gartenmöbel, die von Brombeersträuchern überwucherten Zäune und die Verandaschaukeln; das Lied springt über den Zaun in den Garten der Pension O'Toole, umkurvt die Freizeitutensilien der überwiegend männlichen Gäste - eine Rasenbowlingbahn, ein paar vergessene Krocketschläger -, dann erklimmt es das struppige Efeu an der Backsteinfassade, vorbei an Fenstern, hinter denen Junggesellen dösen, sich den Bart kratzen oder, im Fall Mr. Danelikovs, Schachprobleme formulieren; immer weiter steigt es auf, Artie Shaws bestes und beliebtestes Stück von '39, das man noch immer in allen Radios der ganzen Stadt hören kann, eine so frische und lebendige Musik, dass sie die Lauterkeit der amerikanischen Sache und den letztlichen Triumph der Alliierten zu garantieren scheint; nun aber dringt es durch Theodoras Fenster, die gerade ihre Zehen trocken fächelt. Und meine Mutter hört es, wendet sich zum Fenster und lächelt.
    Der Urheber der Musik war kein anderer als ein mit Brylcreme pomadisierter Orpheus, der in unmittelbarer Nachbarschaft wohnte. Milton Stephanides, ein zwanzigjähriger College- Student, stand an seinem Fenster und spielte flink auf seiner Klarinette. Er trug eine Pfadfinderuniform. Das Kinn erhoben, die Ellbogen ausgestellt, das rechte Knie im Khakihosenbein den Takt schlagend, entließ er sein Liebeslied in den Sommertag, ja spielte mit einer Inbrunst, die vollständig erloschen war, als ich das zugefusselte Blasinstrument fünfundzwanzig Jahre später auf unserem Dachboden entdeckte. Milton war die dritte Klarinette im Orchester der Southeastern High School gewesen. Bei Schulkonzerten hatte er Schubert, Beethoven und Mozart spielen müssen, aber nun, nach seinem Abschluss, konnte er spielen, was er wollte, und das war Swing. Er machte ganz auf Artie Shaw. Er imitierte Shaws ausgelassene, prekäre Körperhaltung, so als drückte ihn die Wucht seines eigenen Spiels nach hinten. Auch jetzt, am Fenster, schwenkte er sein Horn wie Shaw mit dessen präzisen, kalligraphischen Abschwüngen und Kreisen. Er blickte das schimmernde schwarze Instrument entlang und sah auf das Haus zwei Gärten weiter, insbesondere auf das blasse, schüchterne, erregte Gesicht am Fenster im zweiten Stock. Baumstämme und Telefondrähte versperrten die Sicht, dennoch konnte er die langen dunklen Haare erkennen, die genau wie seine Klarinette schimmerten.
    Sie winkte nicht. Sie gab kein Zeichen, dass sie ihn überhaupt hörte - sie lächelte nur. In den angrenzenden Gärten fuhren die Menschen mit ihrem Treiben fort, beachteten das Ständchen nicht mehr. Sie gossen den Rasen oder füllten Vogelfuttertröge auf; kleine Kinder jagten Schmetterlinge. Als Milton ans Ende des Stücks kam, ließ er das Instrument sinken und beugte sich grinsend aus dem Fenster. Dann begann er wieder von vorn.
    Unten hörte Desdemona, die gerade Gäste hatte, die Klarinette ihres Sohnes und stieß, als wollte sie eine Begleitung intonieren, einen tiefen Seufzer aus. Eine Dreiviertelstunde saßen GUS und Georgia Vasilakis und deren Tochter Gaia schon im Wohnzimmer. Es war Sonntagnachmittag. Auf dem Couchtisch spiegelte sich das Licht der funkelnden Gläser Wein, den die Erwachsenen tranken, in einer Schale mit Rosengelee. Gaia hielt sich an einem Glas lauwarmem Vernor's Ginger Ale fest. Eine offene Dose Butterkekse stand auf dem Tisch.
    »Was sagst du dazu, Gaia?«, zog ihr Vater sie auf. »Milton hat Plattfüße. Hast du da denn überhaupt noch Lust?«
    »Daddiiee«, sagte Gaia verlegen.
    »Lieber Plattfüße, als gar nicht mehr auf die Füße kommen«, sagte Lefty.
    »Stimmt genau«, pflichtete ihm Georgia Vasilakis bei. »Sie haben Glück, dass man Milton nicht genommen hat. Ich finde das überhaupt nicht ehrenrührig. Ich wüsste nicht, was ich tun würde, wenn ich einen Sohn in den Krieg schicken müsste.«
    Immer wieder hatte Desdemona Gaia Vasilakis im Verlauf des Gesprächs auf die Knie getätschelt und gesagt: »Miltie, der kommt schon. Bald.« Das hatte sie gesagt, seit die Gäste eingetroffen waren. Sie hatte es in den vorangegangenen sechs Wochen jeden Sonntag gesagt, und nicht nur zu Gaia Vasilakis. Sie hatte es zu Jeanie Diamond gesagt, deren Eltern

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