Middlesex
und polierte gebrauchte Sattelschuhe. Dennoch hielt sich immer ein feiner Billigladen-Geruch in ihren Sachen. (Jahre später hing er mir an, wenn ich auf die Straße ging.) Der Geruch passte zu ihrer Vaterlosigkeit, zu ihrem Aufwachsen in Armut.
Jimmy Zizmo: Was von ihm blieb, hatte er Tessies Körper eingeprägt. Ihre Figur war ebenso zart wie seine, ihr Haar zwar seidig, aber genauso schwarz. Wenn sie es nicht genügend wusch, wurde es fettig, und wenn sie dann an ihrem Kissen roch, dachte sie: »Vielleicht hat so mein Dad gerochen.« Im Winter bekam sie Soor (wogegen Zizmo Vitamin C genommen hatte). Aber anders als er war Tessie hellhäutig und holte sich schnell einen Sonnenbrand.
Seit Milton sich erinnern konnte, war Tessie im Haus gewesen, immer in ihren gestärkten, kirchenartigen Sachen, über die ihre Mutter sich so amüsierte. »Sieh uns beide nur mal an«, sagte Lina oft. »Wie ein chinesisches Essen. Süß und sauer.« Tessie mochte es nicht, wenn Lina so redete. Sie hielt sich nicht für sauer; nur ordentlich. Sie wünschte sich, dass auch ihre Mutter sich ordentlicher benehmen würde. Wenn Lina zu viel trank, brachte Tessie sie nach Hause, zog sie aus und legte sie ins Bett. Weil Lina Exhibitionistin war, war Tessie zur Voyeurin geworden. Weil Lina laut war, war Tessie still. Auch sie spielte ein Instrument: Akkordeon. Es lag in einem Kasten unter ihrem Bett. Immer mal wieder holte sie es heraus, warf sich den Riemen über die Schulter, um das riesige, vieltastige, keuchende Instrument überm Boden zu halten. Das Akkordeon schien fast so groß wie sie selbst, und sie spielte es pflichtbewusst, schlecht und stets mit einem Hauch von Karnevalstraurigkeit.
Als kleine Kinder hatten Milton und Tessie Schlafzimmer und Badewanne geteilt, doch das war lange her. Noch bis vor kurzem war Tessie für Milton die spröde Cousine gewesen. Wenn einer seiner Freunde Interesse an ihr bekundete, riet Milton ihm, sich das lieber aus dem Kopf zu schlagen. »Das ist Honig aus dem Gefrierschrank«, sagte er, wie Artie Shaw es hätte sagen können. »Süß, aber kalt, da zieht sich alles zusammen.«
Und dann kam Milton eines Tages mit neuen Rohrblättern aus dem Musikgeschäft nach Hause. Er hängte Mantel und Hut an die Haken im Flur, nahm die Blätter aus der Papiertüte und knüllte sie zusammen. Im Wohnzimmer machte er einen Freiwurf. Das Papier segelte durch den Raum, traf auf die Kante des Papierkorbs und prallte ab. Worauf eine Stimme sagte: »Halt dich lieber an die Musik.«
Milton blickte sich um. Er sah, wer es war. Aber wer es war, war nicht mehr die, die sie gewesen war.
Theodora lag auf dem Sofa und las. Sie trug ein Frühlingskleid mit rotem Blümchenmuster. Ihre Füße waren nackt, und da sah Milton sie: die roten Zehennägel. Milton hätte nie für möglich gehalten, dass Theodora ein Mädchen war, das sich die Zehennägel lackierte. Die roten Nägel gaben ihr etwas Frauliches, während alles Übrige - die dünnen, blassen Arme, der zerbrechliche Hals - so mädchenhaft geblieben war wie eh und je. »Ich passe auf den Braten auf«, erklärte sie.
»Wo ist meine Mom?«
»Weggegangen.«
»Weggegangen? Sie geht nie weg.«
»Heute eben doch.«
»Wo ist meine Schwester?«
»Im Bürgerverein.« Tessie blickte auf den schwarzen Kasten in seiner Hand. »Ist das deine Klarinette?«
»Ja.«
»Spiel mal was.«
Milton legte den Instrumentenkoffer aufs Sofa. Er öffnete ihn und nahm seine Klarinette heraus, dabei immer in dem Bewusstsein, dass Tessies Beine nackt waren. Er steckte das Mundstück drauf und lockerte die Finger, ließ sie die Klappen hoch- und runterlaufen. Und dann beugte er sich, einem überwältigenden Impuls auf Gedeih und Verderb ausgeliefert, vor, drückte das trichterförmige Ende der Klarinette auf Tessies nacktes Knie und blies einen langen Ton.
Sie kreischte auf und zog das Knie weg.
»Das war ein Des«, sagte Milton. »Willst du ein Dis hören?« Tessie hatte noch immer die Hand auf dem summenden Knie.
Die Vibration der Klarinette hatte ihr einen Schauder bis in den Oberschenkel gejagt. Ihr war komisch zumute, als müsste sie gleich loslachen, doch sie lachte nicht. Sie starrte ihren Vetter an und dachte: »Nun sieh ihn dir bloß an, wie er grinst. Immer noch Pickel, aber hält sich für den Größten. Wo er das nur herhat?«
»Na schön«, antwortete sie schließlich.
»Okay«, sagte Milton. »Ein Dis. Jetzt.«
An jenem ersten Tag war es Tessies Knie. Am Sonntag darauf kam
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