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Middlesex

Middlesex

Titel: Middlesex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffrey Eugenides
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aufgefächert wie die Augen auf einem Pfauenschwanz. Sie prüft sie streng, eine nach dem anderen, als eine Stechmücke, angezogen von der duftenden Lotion auf ihren Beinen, auf ihrem großen Zehennagel landet und festklebt. »Oh, Mist«, sagt Tessie. »Verflixte Viecher.« Sie macht sich wieder an die Arbeit, zupft die Mücke ab, trägt den Lack neu auf.
    An diesem Abend mitten im Zweiten Weltkrieg beginnt gleich ein Ständchen. Es handelt sich nur noch um Minuten. Wenn Sie genau hinhören, können Sie vernehmen, wie ein Fenster aufknarrt, wie ein frisches Blatt in das Mundstück eines Holzblasinstruments eingelegt wird. Die Musik, mit der alles anfing und von der, wie man sagen könnte, meine Existenz abhing, steht kurz bevor. Aber ehe die Melodie zu voller Lautstärke anhebt, möchte ich Sie doch noch gern damit vertraut machen, was in den elf Jahren zuvor alles passiert ist.
    Zum einen wurde die Prohibition beendet. Im Jahr 1933 setzte, nach der Ratifizierung durch alle vereinigten Staaten, der Einundzwanzigste Verfassungszusatz den Achtzehnten außer Kraft. Auf der Tagung der American Legion in Detroit schlug Julius Stroh den Spund aus einem Goldenen Fass Stroh's Bohemian-Bier. Präsident Roosevelt wurde fotografiert, wie er im Weißen Haus einen Cocktail trank. Und in der Hurlbut Street nahm mein Großvater Lefty Stephanides das Zebrafell von der Wand, räumte seine unterirdische Schummerkneipe aus und tauchte wieder in die obere Atmosphäre ein.
    Mit dem gesparten Geld von den Auto-Erotika leistete er eine Anzahlung für ein Gebäude in der Pingree Street, unmittelbar hinter dem West Grand Boulevard. Der oberirdische Zebra Room war eine Bar mit Grill, mitten in einem belebten Geschäftsviertel. Die umliegenden Firmen gab es noch, als ich ein Kind war. Ich kann mich vage an sie erinnern: A. A. Lauries Optikerladen mit seiner Neonreklame in Form einer Brille, New Yorker Clothes, in dessen Schaufenster ich meine ersten nackten Puppen sah, sie tanzten einen mörderischen Tango. Dann gab es noch Value Meats, Hagermoser's Fresh Fish und den Fine-Cut Barber Shop. An der Ecke war unser Lokal, ein schmales einstöckiges Gebäude, von dem der Holzkopf eines Zebras über den Bürgersteig ragte. Nachts konturierte blinkendes rotes Neon Maul, Hals und Ohren.
    Die Klientel bestand hauptsächlich aus Autofabrikarbeitern. Sie kamen nach ihrer Schicht. Recht häufig kamen sie auch vor ihrer Schicht. Lefty machte die Bar um acht Uhr morgens auf, und um halb neun waren die Barhocker voller Männer, die sich betäubten, bevor sie zur Arbeit gingen. Während er ihre Krüge mit Bier füllte, erfuhr Lefty, was sich draußen in der Stadt ereignete. 1935 hatten seine Gäste die Gründung der United Auto Workers gefeiert. Zwei Jahre später fluchten sie über die bewaffneten Wachleute von Ford, die den Gewerkschaftschef Walter Reuther in der »Schlacht an der Hochstraße« verprügelt hatten. In diesen Diskussionen ergriff mein Großvater nie Partei. Seine Aufgabe war es, zuzuhören, zu nicken, nachzuschenken, zu lächeln. Auch 1943, als das Gerede in der Bar hässlich wurde, sagte er nichts. An einem Sonntag im August war es auf Belle Isle zu Schlägereien zwischen Schwarzen und Weißen gekommen. »Nigger haben eine weiße Frau vergewaltigt«, sagte ein Gast. »Jetzt bezahlen alle Nigger dafür. Wart's nur ab.« Montagmorgen war ein Rassenkrawall im Gang. Aber als eine Gruppe Männer hereinkam und sich damit brüstete, einen Neger totgeschlagen zu haben, weigerte sich mein Großvater, sie zu bedienen.
    »Geh doch zurück in dein Land«, schrie einer von ihnen.
    »Mein Land ist hier«, sagte Lefty, und als Beweis tat er etwas sehr Amerikanisches: Er griff unter den Tresen und holte eine Pistole hervor.
    Diese Konflikte liegen nun in der Vergangenheit und sind während Tessie ihre Zehennägel lackiert - von einem weit größeren Konflikt überschattet. 1944 wurden die Autofabriken in ganz Detroit umgerüstet. Bei Ford in Willow Run rollen keine Limousinen mehr vom Band, sondern B-52-Bomber. Bei Chrysler machen sie Panzer. Die Industriellen haben endlich ein Mittel gegen die stagnierende Wirtschaft gefunden: Krieg. Die Motor City, die da noch nicht ihren Beinamen Motown hat, wird für einige Zeit zum »Arsenal der Demokratie«. Und in der Pension am Cadillac Boulevard lackiert Tessie sich die Zehennägel und hört den Klang einer Klarinette.
    Artie Shaws großer Hit »Begin the Beguine« weht durch die feuchte Luft. Er lässt

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