Middlesex
Desdemona angeht, so könnte die Begegnung mit Fard zu der drastischen Entscheidung beigetragen haben, die sie um diese Zeit traf. Kurz nach dem Verschwinden des Propheten unterzog sich meine Großmutter einem ziemlich neuartigen medizinischen Eingriff. Ein Chirurg machte zwei Einschnitte unterhalb ihres Nabels. Er zog Gewebe und Muskeln zur Seite, legte die Eileiter frei, knotete beide zu, und es gab keine Kinder mehr.
KLARINETTENSTÄNDCHEN
Dann war es so weit. Am Abend unserer Verabredung holte ich Julie in ihrem Atelier in Kreuzberg ab. Ich wollte ihre Arbeit sehen, aber sie hatte etwas dagegen. Also gingen wir essen, in ein Lokal namens Austria.
Das Austria ist wie eine Jagdhütte. Die Wände sind voller präparierter Rehgeweihe, vielleicht fünfzig oder sechzig. Die Geweihe wirken seltsam klein, als stammten sie von Tieren, die man mit der bloßen Hand töten könnte. Das Restaurant ist dunkel, warm, holzgemütlich. Wer es nicht mögen würde, wäre jemand, den ich nicht mögen würde. Julie mochte es.
»Da Sie mir Ihre Arbeit nicht zeigen wollen«, sagte ich, als wir uns setzten, »möchten Sie mir wenigstens sagen, was es ist?«
»Fotografie.«
»Vermutlich wollen Sie mir nicht sagen, wovon.«
»Trinken wir erst mal was.«
Julie Kikuchi ist sechsunddreißig. Sie sieht aus wie sechsund zwanzig. Sie ist klein, aber nicht sehr. Sie ist respektlos, ohne grob zu sein. Sie hatte eine Therapie gemacht, war jedoch nicht mehr hingegangen. Ihre rechte Hand ist teilweise arthritisch, von einem Fahrstuhlunfall. Daher hat sie Schmerzen, wenn sie die Kamera zu lange halten muss. »Ich brauche einen Assistenten«, sagte sie zu mir. »Oder eine neue Hand.« Ihre Fingernägel sind nicht besonders sauber. Eigentlich sind es die schmutzigsten Fingernägel, die ich an einer so reizenden, wunderbar riechenden Person je gesehen habe.
Brüste haben auf mich dieselbe Wirkung wie auf jeden anderen mit meinem Testosteronspiegel.
Ich übersetzte Julie die Speisekarte, und wir bestellten. Da kamen sie, die Platten mit gekochtem Rindfleisch, die Schüsseln mit Soße und Rotkohl, die Knödel groß wie Tennisbälle. Wir redeten über Berlin und die Unterschiede zwischen den europäischen Ländern. Julie erzählte mir eine Barcelona-Geschichte: wie sie mit ihrem Freund im Parque Güell nach Besuchsschluss eingeschlossen war. Da geht's schon los, dachte ich. Der erste Ex-Freund ist schon herbeizitiert. Bald folgen die anderen. Sie reihen sich um den Tisch herum auf, präsentieren ihre Defizite, erzählen von ihren Süchten, ihrem betrügerischen Herzen. Danach würde ich aufgerufen sein, meine eigene zerzauste Galerie zu präsentieren. Und an diesem Punkt gehen meine ersten Treffen meistens schief. Mir mangelt es an genügend Datenstoff. Ich habe ihn nicht in dem Umfang, wie ein Mann in meinem Alter ihn haben sollte. Frauen spüren das, und es tritt ein eigenartiger, fragender Ausdruck in ihren Blick. Und schon ziehe ich mich von ihnen zurück, noch bevor der Nachtisch aufgetragen worden ist...
Aber bei Julie geschah das nicht. Der Freund tauchte in Barcelona auf und verschwand wieder. Keiner folgte. Aber sicher nicht, weil es dann keine anderen mehr gab. Der Grund war, dass Julie nicht auf der Jagd nach einem Ehemann ist. Daher musste sie mich auch keinem Vorstellungsgespräch unterziehen.
Ich mag Julie Kikuchi. Ich mag sie sehr.
Und so habe ich meine üblichen Fragen. Was will sie von? Wie würde sie reagieren, wenn? Soll ich ihr sagen, dass? Nein. Zu früh. Wir haben uns ja noch nicht einmal geküsst. Und im Augenblick muss ich mich auf eine andere Romanze konzentrieren.
WIR BEGINNEN an einem Sommerabend 1944. Theodora Ziz mo, die nun jeder Tessie nennt, lackiert sich die Zehennägel. Sie sitzt auf einer Bettcouch in der Pension O'Toole, die Füße auf ein Kissen gelegt, zwischen je zwei Zehen einen Wattebausch. Das Zimmer ist voller verwelkter Blumen und dem bunten Durcheinander ihrer Mutter: Kosmetikatöpfchen ohne Deckel, hingeschmissene Strümpfe, Theosophiebücher und eine Schachtel Konfekt, ebenfalls ohne Deckel und randvoll mit leeren Einwickelpapierchen sowie ein paar angeknabberten Pralinen. In Tessies Zimmerecke ist es ordentlicher. Füller und Bleistifte stehen aufrecht in Bechern. Zwischen messingnen Buchstützen, Miniaturbüsten von Shakespeare, sind die Romane, die sie bei Haushaltsauflösungen sammelt.
Tessie Zizmos zwanzig Jahre alte Füße: Größe sechsunddreißig, blass, blauädrig, die roten Zehennägel
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