Midkemia Saga 02 - Der verwaiste Thron
»Der König ist tot.« Sein Gesicht war wie versteinert, aber seine Augen waren rot gerändert. Lyam sah blaß aus, stand aber aufrecht, den Kopf hoch erhoben.
Brucal hielt etwas über dem Kopf. Ein tiefdunkelroter Strahl wurde von dem kleinen Gegenstand reflektiert, als das Fackellicht sich darin fing. Die Adligen in der Nähe nickten verständnisvoll, denn es war der königliche Wappenring, den alle con-Doin-Könige getragen hatten, seit der Große Delong das Wasser von Rillanon überschritten hatte, um das Banner des Königreichs der Inseln auf dem Festland einzupflanzen.
Brucal ergriff Lyams Hand und schob den Ring auf seinen Finger. Lyam musterte den alten, abgetragenen Schmuck. Das Wappen, das in den Rubin eingeschnitten war, war noch immer nicht vom Alter mitgenommen. Als er die Augen hob, um die Menge anzusehen, trat ein Edler vor. Es war der Herzog von Rodez, der jetzt vor Lyam niederkniete. »Hoheit«, sagte er. Einer nach dem anderen folgten die anderen Adligen seinem Beispiel, bis nur noch Lyam allein stand.
Er schaute auf die Männer vor sich hin. Er war von seinen Gefühlen überwältigt und unfähig, ein Wort zu sagen. Schließlich legte er eine Hand auf Brucals Schulter und machte ihnen allen ein Zeichen, sich zu erheben.
Plötzlich war die Menge wieder auf den Beinen, und ein Jubeln ertönte: »Heil, Lyam! Lang lebe der Thronfolger!« Die Soldaten des Königreichs brüllten ihre Zustimmung besonders laut, weil viele von ihnen wußten, daß es erst wenige Stunden her war, daß die Drohung eines Bürgerkriegs über ihren Köpfen geschwebt hatte. Männer aus dem Osten und dem Westen umarmten sich und feierten, denn eine entsetzliche Zukunft war von ihnen abgewendet worden.
Lyam hob die Hände, und bald waren alle still. Deutlich erhob sich seine Stimme über ihre Köpfe, und alle konnten ihn sagen hören: »Niemand soll heute nacht feiern. Laßt uns die Trommeln dämpfen und die Trompeten nur leise erschallen, denn heute betrauern wir einen König.«
Brucal zeigte auf die Karte. »Die Frontausbuchtung ist umstellt. Jeder Versuch, zur Hauptarmee vorzustoßen, ist zurückgeschlagen worden. Wir haben fast viertausend ihrer Soldaten hier isoliert.«
Es war später Abend. Rodric war mit allen Ehren, die man im Lager aufbringen konnte, bestattet worden. Es hatte nichts von dem Prunk gegeben, der sonst bei einem königlichen Begräbnis üblich war, aber der Krieg hatte es so erforderlich gemacht. In seiner Rüstung war er neben Borric beigesetzt worden, auf einem Hügel, von dem aus man das Lager überblicken konnte. Wenn der Krieg vorüber war, würden sie beide zu den Gräbern ihrer Vorfahren in Rillanon zurückkehren.
Jetzt betrachtete der junge Erbe die Karte und überdachte die Situation im Licht der jüngsten Frontnachrichten. Die Tsuranis hielten den Nordpaß besetzt. Sie befanden sich dicht am Eingang zum Tal. Die Infanterie war vor ihnen dort eingetroffen. Sie hielt diejenigen im Tal fest, die schon dort gewesen waren, und isolierte sowohl die Truppen entlang des Flusses als auch den Rest der Frontausbuchtung.
»Wir haben ihre Offensive gebrochen«, sagte Lyam, »aber das ist ein zweischneidiges Schwert.
Wir können nicht an zwei Fronten gleichzeitig kämpfen. Wir müssen auch bereit sein, sollten die Tsuranis versuchen, von Süden gegen uns vorzustoßen. Trotz unserer Gewinne sehe ich noch kein schnelles Ende.«
»Aber die von der Frontausbuchtung werden bestimmt bald aufgeben«, meinte Brucal. »Sie sind abgeschnitten, haben nur wenig Wasser und Lebensmittel, und sie können keine neuen Vorräte erwarten. In ein paar Tagen werden sie am Verhungern sein.«
Pug unterbrach ihn. »Verzeiht, Lord Brucal, aber das werden sie nicht.«
»Was können sie durch ihren Widerstand gewinnen? Ihre Lage ist hoffnungslos.«
»Sie halten Eure Streitkräfte fest, die andernfalls das Hauptlager angreifen würden. Schon bald wird die Lage in Tsuranuanni wieder so sein, daß die Magier von der Versammlung zurückkehren können. Dann können Wasser und Lebensmittel ohne Schwierigkeiten transportiert werden. Und die Tsuranis werden von Tag zu Tag stärker, denn neue Truppen treffen aus Kelewan ein. Sie sind Tsuranis, und das heißt, sie sind gerne bereit zu sterben, wenn sie dafür nicht gefangengenommen werden.«
»Ist es denn für sie so ehrenvoll zu sterben?« wollte Lyam wissen.
»Ja. Auf Kelewan können Gefangene nur Sklaven werden. Der Gedanke eines Gefangenenaustausches ist ihnen dort
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