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Midleifcrisis

Midleifcrisis

Titel: Midleifcrisis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leif Lasse Andersson
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Tränen wegwischt, lernt er den Unterschied zwischen Taktik und Strategie. »Mit Überraschung und Taktik«, erklärt Holger, »kannst du mit der schwächeren Armee eine Schlacht gewinnen. Aber ohne Strategie verlierst du den Krieg.«
    Also geht Leif in der großen Pause zu Uwe und fragt. »Hast du die Mathehausaufgaben?« Uwe sieht Leif misstrauisch an. »Hier, kannste abschreiben.« Uwe schnappt sich Leifs Heft und fragt: »Warum machst du das?« Leif sagt: »Ich will, dass wir Freunde werden.«
    Fortan bessern sich Uwes Noten und zu seinem verwunderten Respekt vor Leifs Baseballschläger gesellt sich zögerlich auch Dankbarkeit. Leif und Uwe geben für die nächsten acht Jahre ein seltsames Paar ab. Leif kommandiert Uwe auf dem Schulhof gern ein bisschen herum, das steigert sein Ansehen bei den anderen. Uwe nimmt es gutmütig hin. Rumgeschubst wird Leif nie wieder, darauf passt jetzt Uwe auf. Im Gegenzug schafft auch Uwe das Abi, wenn auch nur knapp.
    Doch sieben Monate nach der Baseballattacke ist Holger tot.
    Er stirbt in seinem VW-Käfer, die Lenksäule hat sich beim Aufprall auf einen Baum in seinen Brustkorb gebohrt, sein Kopf ist in grotesker Verrenkung auf dem Armaturenbrett liegen geblieben. Holger war nicht angeschnallt und auch Fallschirmjäger sind nicht unsterblich, selbst dann nicht, wenn ihre kleinen Brüder sie für Götter halten.
    Als die Polizisten mit der Nachricht klingeln, begreift Leif nicht, was das bedeuten soll. Er begreift nur, dass es schlimm sein muss. Mama Andersson erleidet einen Nervenzusammenbruch, der Notarzt betäubt sie mit einer Spritze, und dieser Zustand der Betäubung wird bis an ihr Lebensende anhalten, auch wenn künftig Weinbrand und Valiumtabletten dafür herhalten müssen. Papa Andersson sitzt im Kreis der heulenden Mädchen und hat das Gesicht in den Händen vergraben. Auf Leif achtet niemand. Er schleicht sich raus und geht in sein und Holgers Zimmer. Dann nimmt er sich Winnetou , Band III, die Stelle, an der der edelste aller Indianer stirbt. Einmal hat er es bisher probiert, aber heulend das Buch zugeschlagen. Jetzt liest er tapfer weiter, weil er wissen will, ob auch Fallschirmjäger in die ewigen Jagdgründe kommen, aber darüber findet sich nichts. Leif liest, bis er hört, dass Papa Andersson weinend die Treppe heraufkommt. Da stellt Leif sich schlafend. Erst Holger, dann Winnetou und jetzt ein weinender Papa, das ist zu viel Kummer für seine kleine Seele.
    Papa knipst seine Lampe aus. Als Leif später schreiend aufwacht, fühlt er im Dunkeln Holgers Hand auf seiner Stirn. »Ssscht, Kleiner«, sagt Holger, »ich bin da. Und ich schick dir einen Cowboy! Immer wenn du ihn brauchst. Versprochen!«
    Leif braucht den Cowboy ziemlich oft.
    Erst ziehen seine Schwestern Birgitta, Victoria und Merle aus, eine nach der anderen, weil sie es zu Hause nicht mehr aushalten, dann irgendwann Papa Andersson, der zurück nach Schweden will und Mama Andersson nicht mehr leiden kann.
    Leif lebt den Rest seiner Jugend mit Mama Andersson und ihrem Schnaps und den Valiumtabletten. Oft muss er sie über den Boden ins Bett ziehen, wenn sie irgendwo in ihrem Erbrochenen liegen geblieben ist. Und manchmal muss er an ihrem Bett sitzen und ihr die Stirn streicheln, wenn sie leise »Mea culpa, mea maxima culpa« wimmert. Mit den Jahren begreift Leif, dass Mama Andersson vor langer Zeit Holger nicht als Baby haben wollte, weil sie Papa Andersson doch nicht so doll liebte, wie sie nach ihren Ferien in Stockholm erst gedacht hatte. Doch irgendwie klappte die Sache mit dem Holger-doch-nicht-Haben nicht, und nun glaubt Mama Andersson, dass der späte Tod ihres liebsten Sohnes die Strafe eines strengen Gottes ist. Leif findet diese These verwirrend, und er findet es schwierig, dass nicht er der liebste Sohn ist, wie er stets angenommen hat, aber wenn ihm zum Heulen zumute ist, flieht er ins Zimmer, das für Leif immer Holgers Zimmer sein wird, und wartet auf den Cowboy, der ihm Geschichten erzählt, in denen Männer die Helden sind und in denen weder Frauen noch weinende Mütter vorkommen.
    Aber auf jeden Fall ist auch das eine lehrreiche Zeit für Leif, denn er lernt, dass die Liebe ein schwieriges Geschäft ist und dass man sich nie ganz sicher sein kann, ob der andere einen wirklich mag, auch wenn man noch so fest davon überzeugt sein möchte.
    Nur Holger und der Cowboy, die mögen Leif immer. Und mit den Jahren verwischen ihre Gesichter, und irgendwann tragen sie ein einziges.
    Der Cowboy

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