Midleifcrisis
und macht Kanutouren über den Alsterlauf. Ich glaube, dass er dabei von den Wäldern Sm å lands träumt, denn wenn er Leif manchmal, ganz manchmal, Geschichten erzählt, dann handeln die vom weißlich grün schimmernden Licht in Birkenwäldern, von scheuen Elchen und zutraulichen Mücken, es sind die Momente, in denen Leif seinen Papa fast so doll liebt wie seinen Bruder Holger. Manchmal mieten die drei Männer der Familie auch ein Segelboot an der Elbe, und das sind die schönsten Erinnerungen aus Leifs Kindheit, das Boot legt sich hart am Wind auf die Seite, Papa Andersson steht wie ein Wikinger an der Pinne, Holger teilt sich mit ihm das Dosenbier und mit Leif die Brote, der wiederum kann kaum aus seiner zu großen Schwimmweste gucken und hat als Ausguck das Vorschiff besetzt, von wo aus er stolz jeden am Horizont aufziehenden Dampfer meldet.
Mit Mama verbinden Leif keine so schönen Erinnerungen. Er ist der Jüngste der riesigen Familie und mit acht Jahren Abstand das Nesthäkchen, und wenn er heute zurückdenkt, dann erinnert er sich vor allem, dass Mama stets ein klitzekleines bisschen böse wirkte, das Leben mit fünf Kindern an der Seite eines unzugänglichen Skandinaviers hat sie zu einer verbitterten Frau gemacht. Wenn Mama nicht meckert, versucht sie, Leif auf ihren Schoß zu ziehen und zu küssen, was dieser verabscheut. Strampelnd versucht er dann, sich zu befreien, doch Mama ist stärker, so wie eigentlich alle Menschen, die er bisher kennt. Und weil er sich nicht befreien kann, fühlt Leif sich dabei gedemütigt so wie auch sonst oft in seinem Leben.
Holger dagegen ist 21 und der verdammt größte und stärkste große Bruder, den sich Leif vorstellen kann. Ein unglaublicher Typ von einem Sportler, dazu Offiziersanwärter bei den Fallschirmjägern, der ständig irgendwelche Mädchen anschleppt.
Weil das kunterbunte Haus der Anderssons für fünf Kinder viel zu klein ist, schläft Leif, seit er denken kann, bei Holger im Zimmer, denn zu Birgitta, Victoria oder Merle, die allesamt schon junge Frauen sind, soll Leif nicht, da ist Papa Andersson sehr sittenstreng, auch wenn Leif die weichen Arme seiner Schwestern schätzt, in denen kleine Jungs großen Trost finden können.
Leif liebt Holger, weil der ihn trotz seiner neun Jahre immer noch mit einem Arm in die Luft stemmen kann. Weil er 20 Pfennig für zwei Kugeln Eis bekommt, wenn Holger sein Zimmer am Wochenende mal für sich und ein Mädchen braucht. Weil Holger der weit und breit beste Basketballer ist, vermutlich sogar auf der ganzen Welt. Weil er auf einfach jede Frage eine Antwort weiß. Aber vor allem weil Holger nachts aufsteht, wenn Leif böse Träume hat, sich an sein Bett setzt und ihm den blonden Haarschopf streichelt. »Ssscht, Kleiner«, sagt Holger, wenn Leif leise wimmert, »wenn der Traum noch mal wiederkommt, schick ich dir einen Cowboy, der beschützt dich.«
Holger guckt so ziemlich jeden Western, den er im Fernsehen finden kann, und weil es heute keinen Wilden Westen mehr gibt, ist er zu den Fallschirmjägern gegangen, die haben schließlich auch Gewehre. Wenn Mama und Papa unterwegs sind, darf Leif auf seinem Schoß sitzen und mitgucken. Aus den Filmen lernt Leif, dass es wichtig ist, schneller zu ziehen als die anderen. Und dass man niemandem mit langen Haaren trauen darf, er könnte ein Indianer sein oder, schlimmer noch, eine Frau, und wenn die auftauchen, werden sogar Western langweilig. Holgers Lieblingswestern ist Spiel mir das Lied vom Tod , einmal nimmt er Leif mit ins Kino, wo dieser stundenlang, von Entsetzen gebannt, auf Holgers Schoß kauert und in seinen Armen der Filmmusik lauscht, denn das ist wirklich ein hammerharter Streifen. Nicht, dass Leif besonders viel von der Handlung versteht, aber das ist egal, zu Weihnachten wünscht er sich eine Mundharmonika, und sobald er weiß, wie die funktioniert, wird er Holger die klagenden Weisen eines Charles Bronson vorspielen. Holger wird dann mächtig stolz auf ihn sein und ihn noch doller lieb haben, denn es gibt nichts, wonach Leif sich mehr sehnt in seinem kleinen Herzen als nach Zuneigung.
In der Schule mag ihn keiner besonders gern. Leif ist gerade neun Jahre alt und trotzdem schon aufs Gymnasium gekommen. Er gilt als hochbegabt, mit vier konnte er lesen, mit fünf schreiben und rechnen, die erste und die dritte Klasse hat er übersprungen, in der vierten hat er trotzdem lauter Einsen. Außer in Sport, da hat Leif eine Fünf, denn er kann mit seinen dünnen Armen
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