Midnight Breed 04 - Gebieterin der Dunkelheit-neu-ok-14.11.11
Freigeist, ich glaube, das hat
die Leute angezogen.“
Dylan
lächelte bei dem Gedanken, aber es war schlimm für sie, dass von ihrer Mutter
schon in der Vergangenheitsform gesprochen wurde.
„Danke für
die Schachtel, Janet.“
„Aber gern,
Liebes. Brauchst du Hilfe beim Einpacken?“
„Nein, danke
dir. Ich bin schon fast so weit.“
Sie wartete,
bis Janet gegangen war, und wandte sich dann wieder ihrer Aufgabe zu. Es war
schwer zu sagen, was von alldem ihrer Mutter wichtig war und was man
aussortieren konnte, also sammelte Dylan schließlich alles ein und packte
händeweise Papiere und alte Fotos in die Schachtel.
Sie hielt inne,
um ein paar von den Bildern anzusehen - ihre Mutter, wie sie die Arme um die
dünnen Schultern von zwei jungen Mädchen aus dem Asyl legte, sie hatten diese
schlimmen 80er-Frisuren, trugen Schlauch-Tops und extrem kurze Shorts. Ein
anderes Foto von ihrer Mutter, wie sie hinterm Tresen eines Eisladens stand und
das junge Mädchen neben ihr strahlend anlächelte, das eine „Angestellte des
Monats“-Plakette in die Höhe hielt wie eine Siegestrophäe.
Ihre Mutter
hatte sich mit fast jedem der jungen Problemfalle angefreundet, die durch die
Stiftung kamen. Sie hatte sich ehrlich bemüht, ihnen zu helfen, es zu schaffen
und die Probleme, die sie dazu gebracht hatten, von zu Hause wegzulaufen,
hinter sich zu lassen.
Auch
weigerte sie sich zu glauben, dass in der normalen Gesellschaft kein Platz für
sie war. Ihre Mutter hatte versucht, etwas zu verändern, ihren Beitrag für eine
bessere Welt zu leisten. Und in vielen Fällen war ihr das auch gelungen.
Dylan
wischte sich die Tränen aus den Augen, sie war so unglaublich stolz auf ihre
Mom. Im Chaos auf dem Schreibtisch suchte sie nach einem Papiertaschentuch und
fand keines. Das fehlte gerade noch, dass sie hier im Büro ihrer Mutter saß und
der versammelten Abendschicht etwas vorheulte.
„Scheiße.“
Sie erinnerte sich daran, irgendwo in einer der Schubladen der hinteren
Anrichte ein paar lose Papierhandtücher gesehen zu haben. Sie fuhr auf dem
Bürostuhl ihrer Mutter herum, rollte über den ausgetretenen Teppich und suchte
im Aktenschrank.
Bingo.
Gefunden.
Sie tupfte
sich ihre nassen Augen und das Gesicht, dann fuhr sie wieder herum und wäre
fast vom Stuhl gefallen.
Dort, vor
ihr auf der anderen Seite des Schreibtischs ihrer Mutter, war eine geisterhafte
Erscheinung. Die junge Frau war nicht allein, eine weitere war bei ihr, beide
flackerten und waren mal mehr, mal weniger sichtbar. Dann erschien wieder ein
Mädchen, und noch eins. Und dann, schließlich, war Toni wieder da, das Mädchen,
das Dylan letzte Nacht im Krankenhauszimmer ihrer Mutter gesehen hatte.
„Oh mein
Gott.“ Sie starrte sie mit offenem Mund an. Die Angestellten der Stiftung, die
draußen beschäftigt waren und nichts von dieser geisterhaften Versammlung
mitbekamen, nahm sie nur noch am Rande wahr. „Seid ihr alle wegen meiner Mom
hier?“
Die Gruppe
starrte sie in gespenstischer Stille an, die Gestalten flackerten wie
Kerzenflammen in einer Brise.
Hilf
ihnen, sagte einer der unbewegten Münder zu ihr. Sie brauchen deine
Hilfe.
Verdammt,
sie hatte jetzt keine Zeit für so was. Sie war nicht in der richtigen
Geistesverfassung, um sich mit diesen Dingen abzugeben.
Aber etwas
in ihr kribbelte jetzt, etwas, das ihr sagte, dass sie zuhören musste.
Sie musste
etwas tun.
Er wird
nicht aufhören, ihnen wehzutun, sagte eine andere Geisterstimme. Er wird
weiter morden.
Dylan
schnappte sich Zettel und Kuli und begann mitzuschreiben, was sie hörte.
Vielleicht verstanden Rio und der Orden, worum es hier ging, wenn schon sie
nichts verstand.
Sie sind
unter der Erde.
In der
Dunkelheit.
Sie
schreien.
Sterben.
Dylan hörte
den Schmerz und die Angst in dem vielstimmigen Geflüster, als die toten
Stammesgefährtinnen versuchten, mit ihr zu kommunizieren.
Sie spürte
eine Verbundenheit zu jeder Einzelnen von ihnen und zu denen, die offenbar noch
lebten, sich aber in schrecklicher Gefahr befanden.
„Sagt mir
wer“, sagte sie ruhig und hoffte, dass man sie draußen vor der Tür nicht hören
konnte. „Ich kann euch nicht helfen, wenn ihr mir keine genaueren Informationen
gebt. Bitte, hört mich. Sagt mir, wer es ist, der den anderen von uns wehtut.“
Dragos.
Sie wusste
nicht, welche von ihnen es gesagt hatte, und nicht einmal, ob oder wie die
anderen sie durch die Barriere hatten hören können, die die Lebenden von den
Toten trennte. Aber das Wort
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