Midnight Breed 06 - Gesandte des Zwielichts-neu-ok-16.11.11
den
Tod, seinem oder ihrem.
„Andreas.“
Claires leiser Kummerschrei durchfuhr ihn wie
ein Messer.
Entsetzt darüber, was er ihr eben angetan hatte
- ihnen beiden - , fuhr er mit der Zunge über ihre Wunde und versiegelte sie,
dann taumelte er zurück.
Ihre Wangen waren tief gerötet, ihr Atem ging
keuchend durch ihre offenen Lippen, als sie ihn schockiert anstarrte. Reichen
spürte ihre Angst wie seine eigene, jede intensive Emotion, die sie von jetzt
an empfand, würde nun auch seine sein.
„Andre“, flüsterte sie und hob die Hand, um die
Bisswunde zu berühren, die schon verheilte. Ihr Gesicht war verzerrt, sie
wirkte unglücklich und verwirrt. „Oh mein Gott... was hast du getan?“
Er ging einen Schritt zurück, wie vernichtet
vor Scham.
Claire gehörte einem anderen Mann. Nicht ihm.
Sie hatte sich Roth gegeben, ob es Reichen passte oder nicht. Sie war schon in
einer Blutsverbindung mit Roth, wie auch Roth mit ihr. Jetzt hatte Reichen dieses
Sakrament gewissenlos gebrochen und sich gewaltsam in diese Verbindung
hineingedrängt.
Indem er von Claire getrunken hatte, hatte er
sich unwiderruflich an sie gebunden.
Er würde immer von ihr angezogen sein. Sie
immer in sich spüren. Es war das heiligste Geschenk, das eine Stammesgefährtin
einem Mann seiner Spezies machen konnte, und er hatte es sich aus reiner,
egoistischer Gier einfach genommen - es gestohlen.
„Vergib mir, Claire“, murmelte er. Angeekelt
von sich selbst, weil er sie so heftig begehrte, mit oder ohne die dröhnende
Intensität einer Blutsverbindung, wich er weiter vor ihr zurück und schob sich
langsam rückwärts auf die Tür zu. „Ach, Himmel... bitte, vergib mir.“
9
„Andreas, warte.“
Erwartete nicht. Nein, er sah sie nicht einmal
an.
Als er jetzt zur Tür herumwirbelte, bewegte er
sich schneller, als ihre menschlichen Augen wahrnehmen konnten. Er stieß die
Tür auf in die kalte Nacht. Trat hinaus auf die Betonstufe.
„Andr-e ...“
Der kurze Blick, den er ihr über die Schulter
zuwarf, war wild und heiß. Seine Fänge glänzten weiß, erschreckend riesig. An
der empfindlichen Stelle an ihrem Hals konnte Claire immer noch ihre scharfen
Spitzen spüren. Und selbst wenn sie noch hundert Jahre leben würde, würde sie
nie den schockierenden, sinnlichen Schmerz seines Bisses vergessen. Oder die
Lust.
Gott, diese heiße, wundersame Welle der Lust zu
spüren, als Andreas aus ihrer Vene trank.
Sie waren verdammt. Claire wusste es, und auch
er wusste es; die Erkenntnis stand in seinem Gesicht geschrieben und brannte in
seinem gequälten, glühenden Blick, als er stehen blieb und sie unter dem Licht
der Straßenlampen anstarrte.
Sie konnte nicht ihm gehören. Claire musste
sich an diese Tatsache erinnern, als ihre Beine begannen, ihm instinktiv zu
folgen. Sie gehörte einem anderen, verbunden durch ihr Blut und ihr Gelübde,
wenn schon nicht durch Liebe.
Einem anderen, der den plötzlichen emotionalen
Aufruhr in Claires Körper gespürt haben musste, als wäre es sein eigener. Nach
dem Stammesgesetz gab es keine größere Sünde, als das Sakrament der
Blutsverbindung zu verraten.
Aber als Andreas herumfuhr und die Treppe
hinabstieg und Claire zur Tür rannte, nur um zu sehen, wie er in der Nacht
verschwand, wusste sie, dass sie sich einer viel schwereren Sünde schuldig
gemacht hatte. Der Sünde, eine Blutsverbindung eingegangen und die
Stammesgefährtin eines Mannes geworden zu sein, während ihr Herz sich noch nach
einem anderen sehnte.
Vor dreißig Jahren war sie eine junge Frau
gewesen, kaum Anfang zwanzig - in vielerlei Hinsicht noch so naiv, besonders
was die Existenz einer anderen Rasse von Geschöpfen anging, die sich von Blut
nährten und in der Dunkelheit lebten, unglaublichen Wesen, die irgendwie
menschlich waren... und doch weit davon entfernt.
Sie war damals Studentin gewesen, zum ersten
Mal allein in Europa, als ein Vampir sie in ebendiesem Viertel angegriffen
hatte. Dass sie nicht gebissen worden war, hatte sie einem anderen Angehörigen
dieser Spezies zu verdanken, keinem Ungeheuer, das sich aus den Schatten auf
sie stürzte, sondern einem groß gewachsenen, blonden, kultivierten Gentleman
namens Wilhelm Roth.
Er hatte sie bei sieh aufgenommen - in seinem
Dunklen Hafen, wie man ihr sagte, und ihr für die Dauer ihres Aufenthalts in
der Stadt seinen Schutz angeboten. Sie waren Claire sympathisch gewesen,
Wilhelm Roth und seine Gefährtin, eine schüchterne junge Frau namens Ilsa, die
dasselbe
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