Midnight Breed 06 - Gesandte des Zwielichts-neu-ok-16.11.11
seltsame Muttermal auf ihrem Knöchel trug wie Claire seitlich am Hals.
Claire hatte viel gelernt in diesen ersten paar Wochen, die sie beim Stamm als
Wilhelm Roths Schützling verbracht hatte. Einschließlich der Tatsache, dass es
durchaus möglich war, sich in einen Angehörigen dieser Spezies zu verlieben,
was prompt geschah, sobald sie Andreas Reichen kennenlernte.
Nach vier gemeinsamen Monaten war sie völlig am
Ende gewesen, als Andreas abrupt aus ihrem Leben verschwunden war.
Wilhelm Roth hatte ihr seine starke Schulter
angeboten, um sich auszuweinen. Und nicht viel später war es dann an Claire
gewesen, ihm beizustehen, als er Ilsa durch eine Rogueattacke verlor. Selbst
damals hatte Claire gewusst, dass Mitgefühl und Sympathie kaum dasselbe waren
wie Liebe. Doch Wilhelm schien es nichts auszumachen, dass ihr Herz immer noch
gebrochen war und sie immer noch Andreas nachtrauerte, als er sie noch im
selben Jahr drängte, seine Gefährtin zu werden. Aber dann, keine Woche nach
ihrer Blutsverbindung, hatte Wilhelm sie auf das Landhaus ausquartiert und war
selbst in Hamburg geblieben.
Welch einen schrecklichen, törichten Fehler sie
begangen hatte. Das wusste sie jetzt - eine bittere Lektion - , wenn ihr Kopf
erfüllt war von Zweifeln an Wilhelm und Andreas ihr gerade aufs Neue das Herz
brach.
Claire taumelte immer noch unter dieser
Erkenntnis, als ein schwarzer Geländewagen mit quietschenden Reifen unter ihr
am Straßenrand hielt.
Zwei schwer bewaffnete Agenten sprangen aus dem
Fahrzeug und erfassten sie im blendenden Strahl einer Taschenlampe.
„Frau Roth?“, fragte einer von ihnen, sichtlich
überrascht, sie hier zu sehen. „Der stumme Alarm hat uns einen Einbruch im Büro
gemeldet. Sind Sie in Ordnung?“
Sie wusste nicht, ob sie antwortete oder nicht.
Sie fühlte sich wie betäubt, haltlos... beraubt.
„Ist sonst noch jemand im Gebäude?“, fragte der
andere Agent sie. „Sind Sie allein hier, Frau Roth? Wie haben Sie es geschafft,
diesem Wahnsinnigen zu entkommen, der die letzten Nächte so furchtbar gewütet
hat?“
Claire hatte ihnen nichts zu sagen. Alles, was
sie wollte, war, Andreas nachzulaufen, aber die beiden riesigen, schwer
bewaffneten Agenten ließen sie nicht aus den Augen. Sie führten sie ins Haus
zurück und begannen, dort alles zu durchsuchen.
„Machen Sie sich keine Sorgen“, sagte der eine
tröstend. „Dieser Albtraum ist jetzt vorbei. Wir und Herr Direktor Roth kriegen
den Bastard schon, der Ihr Zuhause überfallen hat, und knallen ihn ab wie einen
tollwütigen Hund.“
„Und ob“, stimmte der zweite Mann zu, er
lächelte, als wollte er sie beruhigen. „Sie werden schon sehen.
Schon bald sind Sie an einem sicheren Ort, als
wären die letzten beiden Nächte nie geschehen.“
Claire entschuldigte sich und ging ins
Badezimmer.
Dort saß sie im Dunkeln und versuchte, nicht zu
schreien.
In einer unterirdischen Einrichtung, versteckt
unter unberührtem Waldland im Süden Neuenglands, bleckte eine Kreatur, die
nicht in diese Zeit und schon gar nicht auf diese Erde gehörte, ihre enormen
Fänge und stieß ein markerschütterndes Brüllen aus. Über zwei Meter groß,
haarlos und nackt außer dem dichten Gewirr von pulsierenden Hautmustern, die
ihn von Kopf bis Fuß bedeckten, bot der Älteste einen furchteinflößenden,
schrecklichen Anblick.
Besonders, wenn er wie jetzt in seiner
zylindrischen Zelle aus UV-Licht auf- und abging und aus den geschlitzten
Pupillen in den feurigen gelben Iriskreisen Mordlust blitzte.
Wilhelm Roth, der ihn im Überwachungsraum des
Hightechlabors aus sicherer Entfernung beobachtete, wurde von einer plötzlichen
Erkenntnis abgelenkt: Seine Stammesgefährtin betrog ihn mit Andreas Reichen.
Roths Sinne meldeten ihm sofort, dass sie für Reichen blutete. Der Geschmack
war wie Säure auf seiner Zunge. Wie der gefangene Älteste im anderen Raum
zitterte Roth vom plötzlichen Drang, in wilder Wut aufzubrüllen, aber er biss
fest die Zähne zusammen und unterdrückte seine Wut.
Selbst jetzt konnte er Claires Qualen fühlen;
der plötzliche Aufruhr ihrer Gefühle, ihre Verwirrung und Verzweiflung hallten
auch in seinen eigenen Venen wider. Dass sie immer noch nach Reichen
schmachtete, überraschte ihn nicht. Sie hatte all die Jahre mit aller Kraft
versucht, ihre Gefühle für ihn zu verdrängen, aber ihr Wille war schwach und
ihr Blut hatte sie schnell verraten. Nicht, dass Roth sich je viel aus Claires
treulosem Herzen gemacht hätte. Liebe war ein
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