Midnight Breed 06 - Gesandte des Zwielichts-neu-ok-16.11.11
flüchtiges, unbeständiges Gefühl,
für das er nie viel Verwendung gehabt hatte. Ehrgeiz, materielle Besitztümer,
Erfolg... das waren die Dinge, die er wertschätzte.
Und er war ein verdammt schlechter Verlierer.
„Der Älteste ist seit einundzwanzig Tagen auf
Nahrungsentzug“, sagte der Stammesvampir, der mit Roth aus dem Fenster des
Beobachtungsraumes auf ihn hinuntersah.
Sein Name war Dragos, wenn er sich auch anders
genannt, einen von mehreren Decknamen benutzt hatte, als er Roth zuerst
angesprochen und ihm vorgeschlagen hatte, sich seiner Revolution anzuschließen.
Oder vielmehr seiner Evolution, denn durch Dragos' Plan würde der Stamm aus der
düsteren Unterwelt, in die er heutzutage verbannt war, zu einer
Vormachtposition über die Menschheit aufsteigen, mit Dragos und einigen seiner
handverlesenen Verbündeten an der Spitze.
„Ausgedehnter Nahrungsentzug ist natürlich
schmerzhaft“, fuhr Dragos fort, „aber bereits in wenigen Tagen werden seine
Körperfunktionen sich auf ein hinreichendes Maß reduziert haben. Wir haben ihm
regelmäßig Sedative verabreicht, um den Prozess zu beschleunigen, doch leider
ist bei dieser Art von Operation die einzig bewährte, sicherste Methode die
Zeit... sagen Sie mir ruhig, wenn ich Sie langweile, Herr Roth.“
Roth riss sich aus seiner Zerstreutheit und
neigte respektvoll den Kopf.
„Nicht im Geringsten, Sir.“
Dragos zu verärgern war Selbstmord, und wenn
der Stammesvampir wie jetzt in diesem liebenswürdigen Tonfall sprach, war er
definitiv wütend.
„Sie beginnen, mir Sorgen zu machen, Roth.
Lassen Sie sich etwa von den Schwierigkeiten, die Sie neuerdings mit diesem
Ungeziefer in Deutschland haben, von wichtigeren Angelegenheiten ablenken?“
Obwohl der verbale Hieb schmerzte, senkte Roth
den Kopf noch tiefer. „Nein, Sir. Nicht im Geringsten.“
Dragos wusste, dass Roths Dunkler Hafen in
Hamburg und sein Landhaus zerstört worden waren.
Er wusste, dass Roths Gefährtin und der
Angreifer einander schon lange kannten.
Auch Roth hatte seine Vorgeschichte mit
Reichen.
Ein Hass, der schon Monate begonnen hatte,
bevor Claire überhaupt auf der Bildfläche erschienen war. Er fragte sich oft,
ob Reichen die Tiefe seiner Feindschaft überhaupt erfasste oder den Aufwand,
den Roth betrieben hatte, um Reichen leiden zu sehen.
Er musste die Situation zu Hause in Hamburg
schleunigst in den Griff bekommen. Und das bedeutete, dass er dafür sorgen
musste, dass Andreas Reichen einen schnellen, sicheren und möglichst
schmerzhaften Tod starb.
Roth hob den Kopf, um dem starren Blick seines
Kommandanten zu begegnen. „Sie haben keinerlei Grund zur Beunruhigung, Sir.
Unsere Mission ist meine einzige Priorität.“
„Gut.“ Dragos durchbohrte ihn mit scharfen
Blicken. „Das will ich hoffen, Herr Roth.“
Auf der anderen Seite des Beobachtungsfensters
stieß der Älteste wieder ein qualvolles Heulen aus.
Dragos sah ungerührt zu, wie die Kreatur, der
Vater seines Vaters, sich den Körper zerkratzte und vor Schmerzen gellend
aufschrie.
„Ich brauche Sie vorerst nicht mehr“, murmelte
Dragos, ohne Roth anzusehen. „Später am Abend erwarte ich einen Bericht über
Ihren aktuellen Status.“
„Jawohl, Sir“, zischte Roth mit einem
angespannten Lächeln.
Das Lächeln verzog sich zu einer wütenden
Grimasse, sobald er das Labor verlassen hatte und hinausging, um sich seinen
Geschäften für Dragos zu widmen. Als in seiner Tasche sein Handy klingelte,
musste er sich zusammennehmen, um das Ding nicht in seiner Faust zu
zerquetschen, während er durch den Bunker stürmte.
„Was?“, blaffte er hinein.
Er lauschte und sein Blut kochte in seinen
Adern, als ein Agent aus Hamburg ihn darüber informierte, dass seine
Stammesgefährtin sich sicher in ihrem Gewahrsam befand.
„Ist sie allein?“
„Jawohl, Herr Direktor. Und wie durch ein
Wunder scheint sie unversehrt. Wir haben sie hier bei uns, in Ihrem Büro in der
Speicherstadt.“
„Hervorragend.“ Roth betrat einen Lagerraum, in
dem gerade niemand war, und schloss die Tür hinter sich. „Holen Sie sie an den
Apparat. Ich habe mit ihr zu reden.“
Claire wollte den Agenten ignorieren, der an
die Badezimmertür klopfte, aber sie konnte sich nicht ewig dort verstecken. Und
genauso wenig ließ sich das Gespräch mit Wilhelm vermeiden, der offenbar gerade
am Telefon war und mit ihr reden wollte.
„Frau Roth“, rief der Agent. „Alles in Ordnung
mit Ihnen?“ Sie stand vom Boden auf, wo sie gesessen
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