Midnight Breed 06 - Gesandte des Zwielichts-neu-ok-16.11.11
recht. Es war nicht Hunter.
Er sah ihm ähnlich wie ein Verwandter - sie
hätten sogar Brüder sein können. Doch es war nicht der Gen-Eins-Killer, der vor
einigen Wochen zum Orden gestoßen war.
Nein, es war Hunter, der jetzt aufstand und zu
Kade herüberkam. Er warf einen leidenschaftslosen Blick auf den grauenvoll
zugerichteten Vampir, den er gerade ins Jenseits befördert hatte und der ihm
genetisch offenbar sehr nahestand. Er bückte sich und hob das seltsame Halsband
aus einer Blutlache.
„Als ich Dragos das letzte Mal gesehen habe,
sagte er, dass es noch andere wie mich gibt“, sagte Hunter ausdruckslos.
„Diesen hier habe ich die letzten drei Nächte in der Stadt verfolgt. Er ist
nicht allein. Und es sind mehr auf dem Weg. Sie werden bald hier sein.“
Kade fuhr sich mit der Hand über den Kopf. „Dem
hast du's ganz schön gegeben, Sonnenschein.“
Hunter drehte den Kopf und starrte ihn an, ohne
zu antworten.
„Komm“, sagte Kade. „Sehen wir nach den anderen
und melden die Sache im Hauptquartier.“
Er wollte nicht, dass ihr gemeinsamer Abend
jemals zu Ende ging. Der Bummel in Newport hatte ihm gefallen, schon allein
deshalb, weil Claires Miene sich aufgehellt hatte, als sie ihm all die Orte zeigte,
die sie als junge Frau gekannt hatte und die ihr offenbar immer noch viel
bedeuteten. Ihr Zuhause war hier, nicht in Deutschland. Sie gehörte hierher, wo
die salzige Brise und das frische Herbstwetter von Neuengland einen tiefen
Rotton auf ihre Wangen zauberten.
Reichen konnte sich nicht vorstellen, dass sie
nach Deutschland zurückkehrte. Er wusste nicht, was die kommenden Tage oder
Wochen bringen würden, egal, wie lange er brauchen würde, Wilhelm Roth zu
finden und seiner Existenz ein Ende zu setzen. Er wusste nicht einmal, ob er
selbst noch am Leben sein würde, sobald der Rauch sich gelegt hatte. Aber eins
wusste er: Die Zeit, die er jetzt mit Claire verbrachte, diese unerwartete und
viel zu kurze Wiedervereinigung, die sie nun erlebten, würden immer die
kostbarsten Stunden seines Lebens sein.
Und wenn er seinen letzten Kampf mit Roth nicht
überleben sollte, war es das alles trotzdem wert gewesen - allein schon darum,
weil er wieder so mit Claire zusammen sein durfte und weil er so die Gewissheit
hatte, dass Roth ihr nie wieder etwas antun konnte.
„Wirklich zu schade, dass ich dir keine von
diesen Pralinen abgeben kann“, sagte sie und biss in eine, als sie neben ihm
ins Haus segelte. Er schloss die Tür hinter ihnen, knipste die Lichter für sie
an und beobachtete das geschmeidige Schwingen ihrer Hüften in dem figurbetonten
schwarzen Rock. Dieser Anblick hatte ihn fast die ganze Nacht verrückt gemacht.
„Bist du sicher, dass ich dich nicht überzeugen
kann, wenigstens ein winziges bisschen zu probieren?“
Er überbrückte die Entfernung zwischen ihnen in
der Zeit, die sie für ein Blinzeln brauchte. Er küsste sie, fuhr mit seiner
Zunge an ihren Lippen vorbei und in die köstliche Wärme ihres Mundes. Die
Schokolade war bittersüß, aber nicht annähernd so verlockend wie das Gefühl,
sie in seinen Armen zu halten.
„Lecker“, murmelte er an ihrem Mund. „Ich
glaube, ich werde dich einfach vernaschen müssen.“
Sie lachte und gab ihm einen neckenden Stups,
aber als sie zu ihm aufsah, glänzte Interesse in ihren Augen. „Machen wir einen
kleinen Spaziergang am Ufer.“
Er schüttelte den Kopf. „Ich habe eine bessere
Idee.“
„Oh ja, kann ich mir vorstellen.“
Er lächelte und streichelte sanft ihre erhitzte
Wange. „Würdest du was für mich tun?“
Auf ihren fragenden Blick nahm er sie an der
Hand und führte sie an den mit einer Stoffhülle abgedeckten Flügel. „Spiel für
mich, Claire.“
„Ach, ich weiß nicht...“ Sie wand sich und
runzelte die Stirn, als er das riesige Stück Stoff herunterzog und den
schimmernden schwarzen Steinway enthüllte. „Es ist schon so lange her, dass ich
gespielt habe. Ich bin sicher schrecklich aus der Übung. Und außerdem wurde
dieser Flügel sicher seit Jahren nicht mehr gestimmt.“
„Bitte.“ Er ließ sich nicht abschrecken. Schon
in wenigen Stunden würden sie Newport wieder verlassen - sobald er ihr diese
Neuigkeit beigebracht und den Orden angerufen hatte, damit sie ihnen einen
Wagen schickten - , und er konnte nicht wissen, ob dies nicht einer ihrer
letzten gemeinsamen Augenblicke war. Selbstsüchtig oder nicht, er wollte diese
besondere Nacht mit Claire bis zum letzten Moment auskosten. „Spiel
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