Midnight Breed 06 - Gesandte des Zwielichts-neu-ok-16.11.11
führte.
„Welche möchtest du zuerst probieren?“
Sie biss sich auf die Lippe, die Entscheidung
fiel ihr schwer. „Die glänzenden mit den roten Streifen sehen gut aus. Oh, und
die kleinen quadratischen mit den goldenen Sprenkeln. Und die mit den
Kokosflocken obendrauf.“
Während sie hin und her überlegte, kam ein zur
Glatze neigender älterer Mann mit einem Stapel leerer Pralinenschachteln aus
dem hinteren Teil des Ladens. Er lächelte höflich und nickte ihnen grüßend zu,
als er seine Sachen hinter der Theke abstellte.
„Was für einen schönen Herbstabend wir wieder
haben“, sagte er. „Kann ich Ihnen behilflich sein?“
„Die Dame würde gerne Ihre Pralinen probieren“,
sagte Andreas.
„Natürlich. An welche hatten Sie gedacht, meine
Liebe?“
Claire sah auf in die freundlichen Augen des
Ladenbesitzers. „Kann ich die kleinen quadratischen probieren?“
Er nickte und griff in die Vitrine, um eine für
sie herauszuholen. „Eine exzellente Wahl. Das ist unsere Spezialität des
Hauses.“
Claire nahm einen kleinen Bissen und genoss den
herbsüßen Geschmack von dunklem, hochprozentigem Kakao. Die Praline schmolz ihr
wie Butter auf der Zunge. „Oh mein Gott“, murmelte sie, als in ihrem Mund eine
wahre Geschmackssymphonie explodierte. „Die ist ja wunderbar.“
Der Ladenbesitzer lächelte sie an, seine Augen
verweilten lange auf ihrem Gesicht, bevor er zu Andreas hinübersah. „Und Sie,
Sir?“
„Nichts, danke. Aber bitte geben Sie der Dame,
was sie möchte.“
Der Mann gluckste. „Eine weise
Lebensphilosophie.“
Claire zeigte auf die gespritzte Praline mit
den dunkelroten Streifen. „Was ist das für eine?“
„Zartbitterschokolade mit Himbeerpüree. Möchten
Sie eine probieren?“
Wieder dieser musternde Blick. Und als Claire
ihn jetzt ansah, kam der Mann ihr irgendwie bekannt vor.
„Entschuldigen Sie“, sagte er und runzelte die
Stirn.
„Kennen wir uns?“
„Nicht dass ich wüsste.“
Er lachte leise in sich hinein und kratzte sich
sein ergrautes Kinn. „Sie sehen aus wie jemand, den ich vor langer Zeit kannte.
Sie sind ihr geradezu wie aus dem Gesicht geschnitten.“
„Was Sie nicht sagen?“, fragte Claire, ihre
Aufmerksamkeit wanderte zu dem Namensschild aus Messing mit dem Logo des Ladens
und dem Namen des Inhabers: Robert Vincent. „Ich glaube nicht, dass ich Sie
kenne.“
„Es ist wirklich verblüffend. Sie sehen aus wie
eine meiner Klassenkameradinnen aus der Highschool.
Sagt Ihnen der Name Claire Samuels etwas?“
Neben ihr erstarrte Andreas in einem tödlichen
Schweigen. Claire blinzelte, verblüfft, ihren Mädchennamen aus dem Mund dieses
Mannes zu hören. Natürlich konnte sie mit ihm in der Schule gewesen sein. Sie
war zwanzig gewesen, als sie die Staaten verlassen hatte, um im Ausland zu
studieren.
Ohne Wilhelm Roths Blut und die ungewöhnliche
chemische Zusammensetzung ihres eigenen Körpers würde auch sie inzwischen
aussehen wie eine Frau mittleren Alters. Stattdessen sah sie im Wesentlichen
noch genauso aus wie vor dreißig Jahren.
„Mm... meine Mutter“, stammelte sie. „Sie
müssen meine Mutter meinen.“
„Ach!“ Sein Lächeln wurde noch breiter. „Ihre
Mutter, natürlich. Mein Gott, Sie könnten glatt ihre Zwillingsschwester sein.“
Claire lächelte. „Das sagt man mir immer
wieder.“
„Wir sollten gehen“, warf Andreas ein, einen
finsteren Untertan in der Stimme.
„Wie geht es Ihrer Mutter?“, fragte der
Ladenbesitzer.
„Gut“, erwiderte Claire. „Sie lebt schon seit
vielen Jahren in Europa.“
„Ich war damals in der Schule so was von
verknallt in sie. Sie war das hübscheste Mädchen unserer Klasse - und auch
eines der nettesten. Und meine Güte, wie sie Klavier spielen konnte! Da habe
ich sie kennengelernt, müssen Sie wissen. Ich war der Assistent des Dirigenten
unseres Schulorchesters.“
„Buddy Vincent“, platzte Claire heraus und
erinnerte sich an den liebenswerten, aber unbeholfenen Jungen, während sie in
das alternde Gesicht dieses sterblichen Mannes starrte.
„Hat sie mich etwa erwähnt?“ Er strahlte.
Andreas räusperte sich ungeduldig, aber Claire
ignorierte ihn.
„Sie sind immer sehr nett zu ihr gewesen“,
sagte sie zu Buddy und erinnerte sich daran, dass er oft versucht hatte, ihr
das Gefühl zu geben, willkommen und etwas Besonderes zu sein - in einer Zeit,
in der es alles andere als leicht war, anders zu sein als die anderen. „Es hat
ihr viel bedeutet, dass Sie ihr Freund
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