Midnight Fever: Verhängnisvolle Nähe (German Edition)
um. Der Tatortfotograf war genauso gründlich wie die Spurensicherer. Alle hatten ihre Arbeit getan. Dr. Siteman wollte jetzt die Lebertemperatur messen. »Erlaubnis erteilt«, sagte er.
Siteman streckte den Arm aus und zog vorsichtig an der linken Schulter, bis die Leiche in die Rückenlage kippte. Die blutigen Haarsträhnen fielen aus dem Gesicht – einem vertrauten Gesicht – und legten einen Ohrring frei, der zwischen blonde Haare rutschte: ein Kruzifix an einem langen Goldkettchen.
Nein!
Bud erhob sich langsam; ihm stockte das Blut in den Adern. Einen Augenblick lang glaubte er, der Ohrring des Toten schwebte zu ihm hoch, und er trat entsetzt einen Schritt zurück. Das Blut stürzte ihm aus dem Kopf, er schwankte hin und her. Die Zeit verlangsamte sich und hielt an. Die Geräusche verschwanden, und im Kopf hörte er fauchende Luft. Zum ersten Mal in seinem Leben glaubte er, er könnte ohnmächtig werden.
»Ich werde sehen, ob ich die Obduktion für morgen früh als Erstes angesetzt bekomme. Lieutenant? Haben Sie gehört, was ich –« Siteman blickte auf und runzelte die Stirn. »Lieutenant?«
Bud hörte ihn, aber es war, als wäre er meilenweit weg.
»Bud?« Sitemans Stimme klang schärfer. »Was ist denn? Sie sehen aus, als hätten Sie einen Geist gesehen.«
Keinen Geist. Einen Mann, mit dem er neulich erst zu Abend gegessen hatte. Einen Freund.
Buds Mund war staubtrocken. Er musste sich die Lippen lecken, um zu sprechen. Er war im Gefecht gewesen, auf ihn war geschossen worden, aber noch nie hatte er eine solche Angst erlebt. Er hatte nicht einmal geahnt, dass er Angst so intensiv empfinden könnte. Sie lähmte ihn.
»Bud? Alles okay?«
Plötzlich kehrten die Geräusche zurück, laut wie ein tosender Fluss. Er hörte das Spurensicherungsteam und das eigene Herzklopfen.
»Wir brauchen niemanden, der Vermisstenanzeige erstattet. Ich kenne ihn. Der Tote heißt Todd Armstrong«, sagte er rau. Seine Lippen waren taub, die Kehle zog sich vor Panik fast zu. »Er hat – hatte – ein Dekorationsgeschäft in der Nähe des Pioneer Square,
Todd’s Designs
.« Bud versuchte zu schlucken, doch sein Gaumen war zu trocken. »Er wurde zu Tode gefoltert, weil jemand wissen wollte, wo sich seine gelegentliche Geschäftspartnerin aufhält, eine Innenarchitektin namens Suzanne Barron. Auf sie wurde gestern Abend ein Mordanschlag verübt. Hängt wahrscheinlich mit der Mafia zusammen. Sie haben zwei Killer geschickt.«
Bud blickte um sich. Sein Partner, Detective Lawrence Cook, sprach leise mit dem Fotografen, kam aber rasch herüber, als Bud ihm winkte. Bud kritzelte etwas auf das Protokollformular. Er musste schnell handeln.
»Ich übergebe Ihnen den Tatort, Cook. Ich brauche ein Auto mit dem schnellsten Fahrer, den wir hier haben, und ich brauche beides
sofort.
« Er gab hastig Anweisungen, während er zum Ausgang eilte. »Wir fordern SWAT an. Schicken Sie das SWAT -Team zur 1740 Lexington Road und sagen Sie, dass möglicherweise eine Geiselnahme vorliegt. Dynamisches Vordringen – Blendgranaten, Sprengladungen, alles für den Nahkampf.« Bei einer Geiselnahme konnte das SWAT -Team auf zwei Arten vordringen: dynamisch und heimlich. Er brauchte Dynamik. Heimlichkeit erforderte Vorbereitungszeit und legte es darauf an, Verbrecher und Terroristen festzunehmen. Bud legte jedoch keinen Wert darauf, jemanden festzunehmen, er wollte unterbinden, was vielleicht – um Gottes willen! – vorging. Verhindern, was immer sie taten. Die Dreckschweine töten, wo sie standen. »Teilen Sie den Leuten mit, dass wir Männern gegenüberstehen, die bewaffnet und extrem gefährlich sind.« Ein letztes Mal wandte er sich um und betrachtete den totgefolterten Todd Armstrong. »Sie sind für das hier verantwortlich und halten vielleicht eine junge Frau als Geisel oder …« Er würgte, konnte kaum atmen und musste die Panik hinunterkämpfen, die ihm den Verstand zu rauben drohte. »… oder foltern sie vielleicht.« Er brachte es nicht über sich zu sagen : …
oder sie ist vielleicht schon tot.
Er begegnete Cooks entsetztem Blick. »Fordern Sie auf der Stelle SWAT an«, sagte er und rannte los.
23. Dezember
1740 Lexington Road
23.30 Uhr
Bud kam spät. Nun, daran würde sie sich wohl gewöhnen müssen. Er machte eine wichtige Arbeit, die viel Zeit verschlang. Claire respektierte das und würde sich niemals beschweren. Aber die Gedanken waren frei. In der Abgeschiedenheit ihres Kopfes durfte sie sich wünschen, dass er schon
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