Midnight Man (02) – Gefährliche Mission
Jetzt.
Sie hatte während der Fahrt sehr unruhig und oberflächlich geschlafen. Unbewusst war sie wohl davor zurückgeschreckt, sich in tieferen Schlaf fallen zu lassen. Als John über unbekannte Straßen fuhr, war sie umso häufiger aufgewacht und hatte sich benommen und hilflos gefühlt, weil sie noch völlig unter dem Eindruck des Geschehenen stand.
Wo waren sie? Hoch oben in den Bergen, mehr wusste sie nicht. Stundenlang war es stetig bergauf gegangen. Der Himmel hatte das Perlmuttgrau eines kalten Morgens; es war hell genug, dass man etwas sah, aber Entfernungen waren schwer zu schätzen.
Sie standen vor einer schlichten Holzhütte, die wenig einladend aussah. John stellte den Motor ab und tauchte sie in eine unheimliche Stille.
Er drehte sich zu ihr und versperrte den Blick aus dem Seitenfenster. »Wir sind da«, sagte er ruhig.
Wie er so dasaß, einen starken Arm über das Lenkrad legte und die große Hand herabhängen ließ, kam er ihr riesig vor. Ihr drängte sich ein Bild auf, das sie vergeblich abzuwehren versuchte: der Killer mit Johns Messer im Hals, die Blutspritzer auf dem Boden und an der Wand, dazu der Gestank von Blut und Kot. Dann das Bild des blutüberströmten zweiten Killers, der aus dem Fenster aufs Pflaster stürzte, und der klatschende Aufschlag. Sosehr sie die verstörenden Eindrücke zu verdrängen suchte, sie schoben sich immer wieder in den Vordergrund.
John bewegte sich, und sofort richteten sich ihre Nackenhaare auf, doch er griff lediglich an den Hebel, um die Tür zu öffnen. Leichtfüßig sprang er hinaus und kam an ihre Seite. Er streckte die Arme nach ihr aus. Sie neigte sich vor, stützte sich auf seinen Schultern ab und fühlte deren Kraft, als er sie vom Sitz hob. Ihre Füße berührten den Boden, doch sie hielt sich noch einen Moment länger an John fest, dem einzigen Halt in einer plötzlich unberechenbaren Welt.
Sie blickten einander an. Weiße Atemwolken mischten sich mit der kalten Morgenluft. Er deutete mit dem Kopf auf die Hütte. »Komm. Es ist zu kalt, um sich draußen aufzuhalten. Wir werden es dir drinnen bequem machen.« Er nahm ihren Koffer in die eine Hand und führte sie mit der anderen am Ellbogen.
Ja, wir sind im Gebirge, dachte sie, als sie über das grobe Geröll der Auffahrt gingen. Die Luft kam ihr dünn vor, aber auch sauber und scharf, und es roch, als wäre ringsherum ein riesiger Kiefernwald. Die paar Zentimeter Schnee auf dem Boden sahen verharscht aus. Sie betraten eine Veranda. John schloss die Tür auf und winkte sie hinein.
Klein, genügsam, schmucklos. Ein Sofa, zwei verschiedene Lehnstühle, ein Esstisch, ein kleiner, sauberer Herd und eine Küchenzeile. Nackte Holzwände. Ein modriger Geruch hing in der Hütte. Alles wirkte karg, kalt, düster.
»Hier entlang«, sagte John und öffnete eine Tür. Dahinter lag ein ebenso karges Schlafzimmer. Nur ein Bett und ein Schaukelstuhl standen darin. Er stellte ihren Koffer ab und deutete auf eine weitere Tür zur Linken. »Da ist das Bad. Ich schlage vor, du wäschst dich und ziehst dir das Nachthemd an. Du musst müde sein, und ich denke, ein paar Stunden Schlaf in einem richtigen Bett werden dir guttun. Komm wieder rein, wenn du fertig bist. Ich werde heizen und Tee kochen.«
Er verschwand, und Suzanne hob den Koffer aufs Bett. Zum Glück hatte sie instinktiv zwei hochgeschlossene Flanellnachthemden eingepackt. Die waren warm und bequem und vor allem nicht freizügig. Sie mochte zwar sexy verspielte Nachtwäsche aus Seide, aber nach sexy und verspielt war ihr im Moment absolut nicht zumute.
In dieser Situation, auf der Flucht vor namenlosen Killern und allein mit diesem großen, gefährlichen Mann, fühlte sie sich vielmehr sehr verletzlich.
Sie wusste zwar, dass John sich ihr im Bett nicht aufdrängen würde, aber sie selbst hatte bereits eine fatale Schwäche für ihn bewiesen. Wenn er sie fragte, würde sie Ja sagen. Sie war völlig durchgefroren, und Sex mit ihm würde sie garantiert aufwärmen und wunderbar ablenken. Sie dachte an den Orgasmus mit ihm, der sie heiß durchströmt hatte. John zu küssen, seinen harten Körper an ihr, in ihr zu fühlen, oh ja, dabei würde sie alle Probleme vergessen können. Andererseits wäre es schrecklich, jetzt Sex zu haben, wo sie sich so wacklig, so verunsichert vorkam.
Schon das vorige Mal mit ihm hatte sie völlig aus dem Gleichgewicht gebracht. Jetzt, wo sie vor den Scherben ihres Lebens stand, würde es ihr den Boden unter den Füßen
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