Miese Stimmung: Eine Streitschrift gegen positives Denken (German Edition)
Menschen so viel zu verlieren wie heute, und gleichzeitig setzen sie immer ängstlicher auf den erhofften Erfolg. Wobei – wie so oft – diese Hoffnung eher das Problem ist als die Lösung.
Wenn wir Erfolg haben, ist es meist nur ein kurzlebiger. Die Kurzzeitigkeit des Erfolges wird noch dadurch weiter verschärft, dass der Erfolg immer weniger von uns selbst abhängt. Je weniger wir durch Leistung auf den Erfolg einwirken können, umso größer wird unsere Angst. Wir haben einerseits Versagensangst, Angst, den Anforderungen nicht zu genügen, und erleiden gleichzeitig die Angst des Ohnmächtigen, der keinen Einfluss auf sein Schicksal nehmen kann. Die Angst nimmt uns in den Griff.
Der Kampf gegen die Angst: eine Bilanz
Das Ergebnis der Angstbekämpfungsmaßnahmen ist niederschmetternd: Betrachtet man den Zeitraum eines einzigen Jahres, dann leiden etwa 20 Millionen aller Deutschen (vom Baby bis zum Greis) an behandlungsbedürftigen Depressionen und anderen Stimmungsstörungen. [79]
Fazit: Der Kampf gegen die Angst ist nicht erfolgreich. Oder ist etwa der erbitterte Kampf gegen die Angst verantwortlich für diese Misere?
Alle Angst-Reduzierungs- und Angst-Bekämpfungsmaßnahmen rechtfertigen sich dadurch, dass sie Angst als ein Problem betrachten. Ein Problem, das schleunigst gelöst werden muss.
Für vielerlei Mangelzustände finden sich alltagssprachlich und in der psychiatrisch/psychotherapeutisch/medizinischen Fachsprache die entsprechenden Bezeichnungen: Antriebsschwäche, Distanzlosigkeit, Appetitlosigkeit, Lustlosigkeit, Eisenmangel, Flüssigkeitsmangel … Was es nicht zu geben scheint, was zumindest keinen Namen hat, sind folgende Diagnosen: Angstschwäche, Angstdefizit, Angstlosigkeit, Angstmangel oder gar ein Angstmangelsyndrom.
Warum ist das so? Weil Angst als Problem gewertet wird und nicht etwa Angstfreiheit. Angst wird als störend empfunden für den ordnungsgemäßen Ablauf der Dinge. Deshalb werden ja auch die entsprechenden Maßnahmen bereitgestellt und ergriffen, um diese Störungen abzustellen. Dabei ist es offensichtlich, dass man, solange man lebt, Angst hat – und das ist auch gut so!
Angst ist normal und überlebensnotwendig
Die gute Nachricht: Angst ist kein Übel, sondern eine Errungenschaft von erheblichem Wert. Angst ist ein normaler menschlicher Zustand wie Freude, Wut und Trauer. Angst sichert das Überleben. Ohne die Angst wären wir genauso schutzlos wie ohne den Schmerz. Schmerz und Angst haben aber ein schlechtes Ansehen. Dabei würde uns Schmerzlosigkeit in Situationen bringen und an Widrigkeiten stoßen lassen, die uns und unserem Körper Schaden zufügen und ihn früher oder später zu Tode kommen lassen. Auf den Schmerz verzichten könnten wir nur, wenn wir unverwundbar wären. Dann wären wir aber keine Menschen. Was der Schmerz für unseren Körper, ist die Angst für unsere Psyche. Beide ermöglichen uns ein Verhalten, das mit dem Leben vereinbar ist. In der Evolution des Menschen sind die allzu Furchtlosen und Angstfreien, die vor keiner Gefahr zurückgeschreckt sind, daher schon lange ausgestorben. Überlebt haben die Schlauen, Flexiblen und Anpassungsfähigen: die Ängstlichen. Von denen stammen wir alle ab. Warum sollten wir dieses Erbe verschleudern und bekämpfen? Die Gefahren nähmen zu, und die Stimmung wäre dadurch auch nicht besser – im Gegenteil.
Angst macht uns menschlich
Pflanzen und Tiere haben keine Angst. Sie sind eben keine Menschen. Pflanzen und Tiere müssen, Menschen können. Tiere sind durch ihren Instinkt entlastet von Entscheidungsfragen. Sie haben keine Wahl. Die Würde, die Qual oder, wenn man so will, das Schicksal des Menschen besteht dagegen in der freien Wahl seiner Entscheidungen und Handlungen. Das Tier kann daher auch nicht schuldig werden, denn Schuld kann es nur dort geben, wo es Alternativen gibt, zwischen denen gewählt wird. Das Tier muss und weiß nicht, was es tut. Der Mensch kann wissen, was er tut, und auch, was er nicht tut.
Das Gerede über die Illusion des freien Willens stellt diese Unterschiede in Frage. Es ist der Versuch einer Rückführung des Menschen zum Tier. Hätte der Mensch keinen freien Willen, wie behauptet wird, dann wäre Angst ein überflüssiges Phänomen. Es gäbe sie nicht, weil es ja den freien Willen nicht gäbe und auch nicht die Überführung von Möglichem in Wirkliches. Die Neuromythologie der Leugnung des freien Willens leistet damit einen Beitrag zur »Vertierlichung« des
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