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Miese Stimmung: Eine Streitschrift gegen positives Denken (German Edition)

Miese Stimmung: Eine Streitschrift gegen positives Denken (German Edition)

Titel: Miese Stimmung: Eine Streitschrift gegen positives Denken (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnold Retzer
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Menschen. Die Voraussetzung menschlicher Kultur und ihrer Errungenschaften wird in Frage gestellt. Die Kultur der Schuld, der Strafe und des Rechtssystems gründen auf dem freien Willen. Auch die Möglichkeit eines moralischen Verhaltens wird so in Frage gestellt. Spricht man Menschen ihren freien Willen ab, verhalten sie sich unmoralischer, aggressiver und weniger hilfsbereit. [80]  
    Tiere haben mit ihrem Instinkt alles, was sie für ihr Überleben und ihr Sozialleben brauchen. Obwohl sie nicht mit Kenntnissen über Kants Kritik der reinen Vernunft aufwarten können, hat man nicht den Eindruck, dass sie unter einem Mangel leiden. Wenn Sie zu Hause ein Haustier, zum Beispiel eine Katze, haben, dann ist es nur schwer vorstellbar, dass diese im Morgengrauen, um 4.30 Uhr in der Frühe aufwacht und sich ängstlich die Frage stellt: Was ist nur mit mir los, dass ich mich in meinem Job, ja in meinem gegenwärtigen Leben so ängstige, dass ich schon so lange nichts Brauchbares und Kreatives mit meiner Zeit anfangen kann? Wo soll das Ganze noch hinführen, wo soll das Ganze enden?
    Allerdings ist es auch so, dass unsere Haustiere sich weder von einem Roman fesseln lassen noch sich Gedanken über ihre Optionen und Möglichkeiten machen. Und vor allem bereuen sie wohl kaum nichtrealisierte Optionen und frühere Entscheidungen.
    Der Mensch lacht, weint und hat Angst. Er ist es, der sich mit Blick auf die Zukunft freut oder ängstlich wimmert. Die Angst ist verknüpft mit dem Blick in die Zukunft. Nur der Mensch greift vor, denkt an die Zukunft, plant, hofft und fürchtet die Zukunft. Das Tier macht sich keine Gedanken darüber. So wie es kein Tier gibt, das um seine Zukunft fürchtet, gibt es auch keines, das über seine Vergangenheit weint, vergangene Entscheidungen bereut oder sich schuldig fühlt. Das seiner selbst sichere Tier kennt zwar die Furcht vor Gefahren, der Instinkt sorgt dafür, jedoch nicht die Angst.

Angst kultiviert und macht erwachsen
    Wo wir nicht von der Natur und von Instinkten beherrscht werden, entsteht die Möglichkeit von Kultur. Wir sind darauf angewiesen, uns unsere eigenen Gedanken zu machen, unsere Entscheidungen zu treffen, unsere Handlungen zu vollziehen oder zu unterlassen und damit uns und unsere Zukunft zu entwerfen. Während wir für unsere Natur nicht verantwortlich sind, sind wir für unsere Kultur sehr wohl verantwortlich. Sie wird von uns gemacht, aufrechterhalten und kann von uns auch verändert werden. Zu unserer Kultur gehört auch, wie wir über unsere Natur nachdenken und mit ihr umgehen. Dabei haben wir Angst davor, für unsere Entscheidungen und Handlungen verantwortlich gemacht zu werden, und wollen daher die richtige Wahl treffen oder wenigstens die falsche vermeiden.
    Die Angst ist gleichzeitig Mittel und Begleiterscheinung einer produktiven und kultivierten Lebensgestaltung. Sie ist nicht nur ein wesentlicher Teil und die Triebfeder der Entwicklung menschlicher Kultur, sondern ebenso eine wesentliche Triebfeder unserer eigenen biographischen Entwicklung, ein notwendiger Teil unserer Sozialisation. Die Sozialisation ist die Einführung in die Angst. Insofern ist das lobende Gerede von der sogenannten angstfreien Erziehung Nonsens.
    Dies bezeugt schon das Märchen von »Einem, der auszog, das Fürchten zu lernen« [81]   : die Geschichte eines jungen Mannes, dem noch etwas fehlt. Er hat noch nicht gelernt, sich zu ängstigen. Angst ist eine menschliche Errungenschaft, die erworben werden muss, um sie zu besitzen und nutzen zu können.
    Aber so kompliziert und anspruchsvoll, wie es zunächst klingen mag, ist das Erlernen der Angst auch wieder nicht. Es gelingt leicht, wenn man auf die Anstrengung, es zu verhindern, verzichtet.
    Jeder, der Kinder hat, weiß, wie kinderleicht Angst gelernt wird und was geschieht, wenn Kinder ausziehen, um das Fürchten zu lernen. Wenn Kinder anfangen sich fortzubewegen, zuerst krabbelnd, dann laufend, bewegen sie sich von ihren bekannten Bezugspersonen weg, bis an eine fast magisch erscheinende Grenze. Dort verspüren sie offensichtlich Angst: Trennungsangst. Aber es erscheint wie ein Spiel. Wir fragen uns: Ist der kindliche Blick und Gesichtsausdruck ein ängstlicher oder ein lachender? Nun sind auch noch Juchzen und lustvolle kurze Schreie zu hören. Wir sind Zeugen eines vom Kind selbst erzeugten Gefühls: der Angstlust. Angstlust erlebt, wer sich freiwillig in eine neue, unsichere, vielleicht sogar gefährliche Situation begibt. Dieser

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