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Miese Stimmung: Eine Streitschrift gegen positives Denken (German Edition)

Miese Stimmung: Eine Streitschrift gegen positives Denken (German Edition)

Titel: Miese Stimmung: Eine Streitschrift gegen positives Denken (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnold Retzer
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teilnahmen, kamen wegen der Angst anderer.
    Das Ignorieren und Geheimhalten ist zwar ein verständlicher Versuch, die Angst in den Griff zu bekommen, bewirkt aber in erster Linie, dass die Angst noch zunimmt. Denn die Versuche, die Angst durch Geheimhaltung in den Griff zu bekommen, wie auch die Versuche der aktiven Bekämpfung der Angst führen dem bekämpften Gegner, der Angst, Energie zu, die sie weiter wachsen lässt. Der Gegner Angst wird durch den Kampf nicht geschwächt, geschweige denn besiegt, sondern gestärkt und zum dauerhaften Sieger. Die Stimmung wird immer schlechter, je mehr man sich anstrengt, sie zu bekämpfen.

Waffe: Religion und Politik
    Neben den chemischen Kampfmitteln gegen die Angst und der Geheimdiplomatie gibt es aber auch religiöse und politische Kampfmaßnahmen. Ein religiöser Tranquilizer wurde vor wenigen Jahren mit den letzten Worten des Papstes Johannes Paul II. verabreicht: »Habt keine Angst!« – Ein Papst starb, und alle sahen zu. Ecce Homo. Ein alter, artikulationsunfähiger Mann mit schmerzverzerrtem Gesicht, unkontrolliertem Speichelfluss und zitternden Händen wird im Rollstuhl ans Fenster seiner Wohnung geschoben und versucht hilflos, die große Menge auf dem Petersplatz und die noch größere zu Hause vor ihren Bildschirmen zu grüßen: urbi et orbi. Das schaurig faszinierende Schauspiel dauerte nicht lange, wurde aber an mehreren Tagen wiederholt. Als traditionsreiche Institution war die katholische Kirche wieder einmal offensiv und souverän auf der Höhe der Medienkunst, beim Sterben live und bei der Berichterstattung über Kampfhandlungen gegen die Todesangst.
    Neben dem auf Beruhigung zielenden Appell – keine Angst, alles wird gut! – lassen sich aber auch mahnende Appelle vernehmen: »Angst ist reaktionär!«, so der ermahnend politische Appell von Ulrike Meinhof. [77]   Das geeignete Mittel dagegen: etwas (Nichtreaktionäres) tun, um die Angst verschwinden zu lassen.
    Beide Appelle (Johannes Paul II. und Ulrike Meinhof) haben mehr gemeinsam, als man zunächst zu denken wagt. Wir erleben ja seit einiger Zeit scheinbar Gegensätzliches gleichzeitig: Religionen und ihre Anhänger beanspruchen Kränkungsschutz, der ihnen sogar gewährt wird – und andererseits erleben wir terroristische, ebenfalls oft als religiös deklarierte Gewaltaktionen, hinter denen sich ebenfalls Angstbekämpfungsmaßnahmen verbergen.

Waffe: Selbstzerstörung
    Können nicht auch die Terrorakte islamistischer Fundamentalisten als ein Versuch verstanden werden, die Angst zu bekämpfen, als Verlierer dazustehen? [78]   Die Angst zu verlieren wird durch die Eskalation des Schreckens bekämpft und vermittelt die Machtphantasie, Herr über das Leben der anderen und über den eigenen Tod zu sein. Der radikale Verlierer kann viele andere zu Verlierern machen. Er kann seinen sonst behinderten Größenphantasien Ausdruck geben und im Tod das ihm Versprochene einlösen, worin immer der Siegerpreis bestehen mag. Sein Triumph besteht darin, dass man ihn weder bekämpfen noch bestrafen kann. Das besorgt er schon selbst. Dadurch ist er gegen die Angst ein Stück weit immun. Er kann nicht mehr verlieren. »Ihr liebt das Leben, wir lieben den Tod, und deshalb werden wir siegen.« So das Bekennervideo von al-Qaida nach dem Madrider Anschlag vom März 2004. Vor diesen erfolgreichen Angstbekämpfern kann man sich fürchten.
    Notwendig für diese Form der Angsttherapie ist es, sich abzusondern und unsichtbar zu machen. Geheimhaltung ist die Parole. Damit ähnelt er einem anderen Sozialtyp der globalisierten Moderne, dem radikalen Gewinner. Auch er ist meist gesellschaftlich vollkommen isoliert und kann von Angst-Phantasmen heimgesucht werden. Er leidet, schon allein aus Sicherheitsgründen, an Realitätsverlust, fühlt sich missverstanden und bedroht. Die Fallhöhe des radikalen Gewinners ist hoch, entsprechend also auch die Angst davor. Denn die Verlustangst nimmt mit jedem Gewinn an Geld oder Macht zu. Je mehr Negatives aus dem Weg geräumt werden kann, desto ärgerlicher wird der Rest an Negativem, der noch übrig bleibt.
    Für den Normalverbraucher, der weder ein radikaler Verlierer noch ein radikaler Gewinner der Globalisierung ist, gilt Ähnliches. Ihn hat die Statusangst im Griff, die Angst, ob er wirklich das bekommt, was ihm seiner Meinung nach zusteht. Und er hofft angstvoll, zumindest das erhalten zu können, was ihm bisher zugestanden wurde. Diese Angst ist immens. Noch nie hatten so viele

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