Miese Stimmung: Eine Streitschrift gegen positives Denken (German Edition)
Chefarzt und seiner Haftpflichtversicherung. Wiederum mehr als ein Jahr später – also inzwischen dreieinhalb Jahre nach der stationären Behandlung von Herrn Siefert – wird ein zweites Gutachten, dieses Mal vom Schlichtungsausschuss einer Landesärztekammer zur Begutachtung ärztlicher Behandlungen, in Auftrag gegeben. Das Gutachten kommt zu den gleichen Ergebnissen wie das erste Gutachten.
Die Versicherungskammer des Chefarztes gibt daraufhin an, es seien keine groben Behandlungsfehler festgestellt worden, sondern lediglich ein Dokumentationsmangel; er schlägt einen Vergleich vor. Der Rechtsanwalt von Herrn Siefert verweist wiederum auf das große Risiko eines Prozesses im Bereich der Arzthaftung und rät zur Annahme des Vergleichsangebotes.
Nach mehr als vier Jahren kommt es zur Auszahlung der angebotenen Abfindungssumme. Diese Summe deckt noch nicht einmal die in den vergangenen Jahren angefallenen Kosten für Gutachten und Rechtsanwalt. Das ganze Verfahren ist ausgegangen wie das Hornberger Schießen. Von Glück kann man noch sagen, dass Herr Siefert aufgrund seiner Demenz von all dem nichts mitbekommen hat. Hätte es in seinem Falle allerdings nicht Menschen gegeben, die der Meinung waren, auch demente und ältere Patienten sollten adäquat behandelt werden, so wäre gar nichts geschehen und es hätte keinen Behandlungsfehler gegeben, weil niemand einen solchen gesehen hätte.
Schätzungen zufolge leiden jährlich bis zu eine Million Menschen unter den Behandlungsfehlern ihrer Ärzte. Eine Zahl, die die Bundesärztekammer allerdings für völlig übertrieben hält. Den Rechtsstreit mit Medizinern nehmen rund 40000 Patienten pro Jahr auf, und rund 10000 Fälle werden in sogenannten Schlichtungsstellen der Ärzteschaft entschieden. Frank Ulrich Montgomery – Präsident der Bundesärztekammer – begutachtet seinerseits die gebräuchlichen Verfahren abschließend: »Die Qualität des bisherigen Verfahrens ist irre gut.« [94]
Na, dann ist ja alles gut. – Bei Nebenwirkungen des Gesundheitssystems fragen Sie besser nicht Ihren Arzt oder Apotheker.
Null-Fehler-Toleranz kann tödlich sein
2008 outeten sich 17 Ärzte, fast alle in leitender Position, als Verursacher von Behandlungsfehlern und forderten ihre Kollegen auf, ähnlich offen mit ihren Fehlern umzugehen. Sie gründeten das »Aktionsbündnis Patientensicherheit«. Bezeichnenderweise sprechen diese Ärzte von Behandlungsfehlern und nicht von Kunstfehlern. Der Kunstfehler macht den Eindruck, er sei nicht ganz so schlimm, zumindest für den Patienten. Der Arzt wird als Künstler bezeichnet, der nicht auf der Höhe seiner Kunstfertigkeit ist, also durch einen Kunstfehler seinem eigenen Ansehen als Künstler schadet. Im Gegensatz dazu stellt ein Behandlungsfehler den Arzt als Behandler eines Patienten heraus, der durch seine Behandlung seinem Patienten schadet.
Laut einer Studie des Aktionsbündnisses sind jährlich zwei bis vier Prozent der deutschen Klinikpatienten von Fehlern des medizinischen Personals betroffen. Das entspricht einer Zahl von 340000 bis 680000 Menschen. Etwa 17000 von ihnen überleben die Fehlbehandlung nicht. Patientenverbände vermuten, dass es in Deutschland jährlich 25000 Sterbefälle infolge ärztlicher Behandlungsfehler gibt. Eine Meldepflicht – wie für viele Infektionskrankheiten – gibt es für ärztliche Behandlungsfehler in Deutschland nicht. Sie wird nicht für nötig gehalten oder heftig bekämpft. Zum Vergleich: Für die Schweinegrippe gab es 2009 eine Meldepflicht. Insgesamt sind bis Januar 2010 an der Schweinegrippe 178 Menschen verstorben.
Das deutsche Gesundheitssystem ist lebensgefährlicher als Aids, als die Schweinegrippe und der deutsche Straßenverkehr, tödlicher als Brust- oder Darmkrebs. (Zum Vergleich: Im deutschen Straßenverkehr kamen im vergangenen Jahr knapp 5000 Menschen ums Leben.)
Experten sind der Ansicht, dass ärztliche Behandlungsfehler zu den häufigsten zehn Todesursachen zählen. Darum schlägt eine Initiative des Bundespatientenbeauftragten einen Entschädigungsfond für Opfer von Ärztefehlern vor. Der Fond soll, so der Vorschlag, von Ärzten, Versicherern und Klinikpatienten finanziert werden. Bundesärztekammerpräsident Montgomery ist dagegen. Es sei nicht nötig da es ganz wenige Opfer gäbe. Und gegen eine Meldepflicht für ärztliche Behandlungsfehler läuft die Bundesärztekammer Sturm. [95]
Allerdings ist die Konstruktion des geplanten Entschädigungsfonds
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