Miese Stimmung: Eine Streitschrift gegen positives Denken (German Edition)
Stimmung.
Kontrollieren!
Glaubt man allerdings zu wissen, was richtig und was falsch ist, besteht eine Alternative zu der eben beschriebenen Fehlervermeidung durch Handlungsverzicht. Aber auch diese Alternative ist nicht ohne. Wie stellt man sicher, dass man sich nicht geirrt hat und das Richtige getan wurde? Besonders dann, wenn der Katalog der zu vermeidenden Irrtümer und Fehler umfangreich ist, wird man schon nach kurzer Zeit zu nichts anderem mehr kommen, als Fehler und Irrtümer auszuschließen.
Dieser Versuch führt zu einem immer bizarreren und selbstzerstörerischen Kontrollverhalten: Man kann dann sogar damit beschäftigt sein, 50-mal am Tag zu duschen um »sicherzustellen«, dass man nicht doch irrtümlicherweise noch Krankheitserreger am Körper hat, die man auf andere übertragen könnte. Aber es ist auch nicht auszuschließen, dass das Duschwasser seinerseits nicht keimfrei ist. Die angestrebte Beruhigung tritt nicht ein. Im Gegenteil: Die Beunruhigung wird immer größer und quälender.
Die Wahrscheinlichkeit, dass Fehler und Irrtümer geschehen, erhöht sich mit der Idee, Fehler und Irrtümer ausschließen zu können.
Gefährliche Kunstfehler
Herr Siefert, ein 82-jähriger dementer Mann, ist gestürzt und hat sich dabei Risswunden am Auge und Unterarm, Prellungen und eine Beckenschaufelfraktur zugezogen. Er wird deshalb in die unfallchirurgische Abteilung eines Krankenhauses aufgenommen. Zwei Wochen später wird er aus der stationären Behandlung in ein Alten- und Pflegeheim entlassen. Bereits fünf Stunden nach seiner Entlassung wird er notfallmäßig mit massiver Luftnot, Herzrhythmusstörungen, einer schmerzhaft prallgefüllten Harnblase und einer Niereninsuffizienz wieder in ein Krankenhaus aufgenommen. Sein Sohn, selbst Arzt, ist zunächst erstaunt, dann empört, wie sein Vater in einem solchen Zustand, der sich nicht innerhalb von wenigen Stunden spontan einstellen kann, aus der unfallchirurgischen stationären Behandlung entlassen werden konnte. Er nimmt mit dem verantwortlichen Chefarzt der Abteilung telefonisch Kontakt auf, um mit ihm kollegial die Situation zu klären. Der Chefarzt vereinbart einen Rückruf; er will sich selbst sachkundig machen. In einem zweiten Telefongespräch erklärt er dann, alles sei ordnungsgemäß, lege artis (nach den Regeln der ärztlichen Kunst), abgelaufen. Beweisend dafür sei, dass Herr Siefert vor seiner Entlassung von einem Facharzt für Chirurgie gesehen worden sei.
Soviel unverfrorene Dreistigkeit ist Herrn Siefert junior nun doch zu viel. Er fühlt sich für dumm verkauft und fordert den Chefarzt auf, ihm alle Krankenunterlagen seines Vaters zuzusenden. Nachdem diese erst nach mehreren Ermahnungen vollständig vorliegen und der Chefarzt weiterhin, inzwischen assistiert von seiner Haftpflichtversicherung, auf dem »Facharztuntersuchungsargument« beharrt, beschließt Herr Siefert juristisch vorzugehen und einen Rechtsanwalt zu beauftragen, die Interessen seines Vaters wahrzunehmen. Da sich argumentativ nichts Neues ergibt, wird zwei Jahre später auf Initiative des Anwalts ein Gutachten erstellt, das Herrn Siefert in Rechnung gestellt wird. Dieses Gutachten kommt zu dem Ergebnis, dass die Krankenakten nicht vollständig geführt wurden, dass Eintragungen über angebliche Befunde und Untersuchungen zwei Wochen später nachgetragen wurden und dass die schon erwähnte fachärztliche Entlassungsuntersuchung (in Form einer Stellungnahme) ein Jahr nach der Entlassung (!) von Herrn Siefert abgegeben wurde. Solche nachgetragenen Dokumentationen erscheinen denn auch dem Gutachter mehr als merkwürdig, insbesondere auch deshalb, weil sie vor dem Hintergrund eines bereits laufenden Verdachts auf Fehlbehandlung abgefasst wurden. Das Gutachten stellt weiter eine inadäquate Behandlung von Herrn Siefert fest. Selbst auffällige Laborwerte wurden nicht adäquat berücksichtigt, es wurde in grob fahrlässiger Weise – jenseits der unfallchirurgischen Diagnostik – nicht die geringste medizinisch notwendige Diagnostik durchgeführt und insofern eine grob fahrlässige Entlassung aus der stationären Behandlung veranlasst.
Dieses Gutachten – so absurd das erscheinen mag – führte nicht zu einer Veränderung der Argumentation von Chefarzt und Haftpflichtversicherung. Herr Siefert besitzt keine Rechtsschutzversicherung, und sein Anwalt sah trotz dieses eindeutigen Gutachtens erfahrungsgemäß ein nicht unerhebliches Risiko für einen Rechtsstreit mit dem
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