Miese Stimmung: Eine Streitschrift gegen positives Denken (German Edition)
nach Fehlerfreiheit und ist ein Gegenmittel gegen die Erniedrigung durch die Scham und den befürchteten Gesichtsverlust, den das Gebot der Perfektion uns aufnötigt.
Der Humor hat viel gemeinsam mit dem Irrtum. Witzige Situationen im Alltag ergeben sich häufig aus der Diskrepanz zwischen dem, was man denkt oder glaubt, und dem, was man tatsächlich tut oder was wirklich geschieht. Ähnlich besteht der Irrtum in dem Unterschied zwischen der Welt, wie sie ist, und der Welt, wie wir sie uns denken.
Auch die Kunst lebt vom Irrtum. Fehlerlose Kunst ist keine Kunst, sondern Kitsch, [102] sozialistischer Realismus oder »nichtentartete« Kunst. Blaue Pferde (Franz Marc hat sie gemalt) – wo gibt es denn so was?
Irrtümer und Fehler gibt es, weil wir die Wirklichkeit nie ganz erfassen können, wie sie ist. Der Künstler will das erst gar nicht. Kunst ist eine persönliche oder gar »falsche« Darstellung der Realität. Der Künstler zeigt uns seinen ganz eigenen Blick auf die Welt. Die Kunst erschafft eine Fiktion auf dem Hintergrund von Fehlbarkeit. [103] Ein gelungenes Leben, wie ein gelungenes Kunstwerk, verdankt sich der Fähigkeit, ohne Gewissheiten zu leben. Dafür sind unbekannte Territorien zu entdecken, außerhalb von uns oder in uns – und darin besteht ein wesentlicher Teil des Kunstgenusses wie des Lebensgenusses. Wir erwandern dabei unbekannte Welten. Kunst und Wissenschaft beschäftigen sich mit der begehbaren Überbrückung des Grabens zwischen unserem Geist, unseren Vorstellungen und der Welt. Sie verlangen nach Fehlern und Irrtümern.
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Von toten Gäulen soll man absteigen
Wenn du entdeckst, dass du einen toten Gaul reitest, steige ab! So lautet eine alte und sehr vernünftige Indianerweisheit.
Umso erstaunlicher ist es, wie viele Anstrengungen Menschen unternehmen, um gerade das nicht zu tun. Die Verbissenheit, die dabei zutage tritt, überrascht, weil der Ritt auf toten Gäulen alles andere als erfreulich ist: Er bringt einen nirgendwo hin! Nun gut, die intensiven Reiterfahrungen der Indianer sind nicht mehr weit verbreitet.
Die toten Gäule, die wir heute trotz trüber Aussichten so ausdauernd reiten, sind Vorstellungen, Überzeugungen und Glaubenssätze, an denen wir festhalten, auch wenn sie unbrauchbar, überlebt oder ganz einfach nur falsch sind. Null-Fehler-Toleranz-Kulturen sind nichts anderes als ein kollektives Reiten auf toten Gäulen.
Wenn wir etwas erleben, was nicht in unsere Vorstellungen von uns selbst, von anderen oder der Welt passt, ist das eine besondere Herausforderung. Wir haben dann prinzipiell zwei Möglichkeiten: Wir korrigieren oder lassen ab von unserem Selbstbild und bestimmten Überzeugungen. Oder wir rechtfertigen unser Tun, unser Denken, unser Fühlen – wir reiten den toten Gaul weiter.
Wie machen wir das? Warum machen wir das?
So haben wir den Gaul doch immer geritten!
Menschen fällt es meist schwer, sich einzugestehen, dass sie sich getäuscht haben. Es ist schon schwierig zuzugeben, dass man sich in anderen getäuscht hat; sich einzugestehen, sich in sich selbst getäuscht zu haben, ist noch schwieriger. Aber es gibt Möglichkeiten, diese Enttäuschung zu umgehen: Man belügt andere und auch sich selbst.
Beliebt ist die Feststellung: So haben wir es doch schon immer gemacht! Was soll denn jetzt daran falsch sein? Dieses Argument ist umso zugkräftiger, je schwerer das Pferd schon zu seinen Lebzeiten zu reiten war. Menschen, die unter vielerlei Strapazen, Leid, Ärger und Mühe ein Ziel zu erreichen versuchen, das Ziel vielleicht sogar erreicht haben, schätzen dieses Ziel meist höher ein als eines, das ohne Mühe und mit Leichtigkeit, so nebenbei, zu erreichen war.
Die Anstrengung fordert ihren Tribut und will gewürdigt sein. Die Rechtfertigung, besser: die Selbstrechtfertigung, ist eine menschliche Denk-Errungenschaft. Sie macht es möglich, tote Gäule zu reiten, sie für lebendig zu halten oder auf ihre Reanimation durch Weiterreiten zu setzen, unabhängig davon, wie katastrophal das Ergebnis und wie mies die Stimmung dabei ist.
Auch wenn man Menschen keine Vorliebe für unangenehme Erfahrungen unterstellen muss, erscheinen ihnen Ziele, die freiwillig angestrebt werden, dann besonders attraktiv, wenn sie nicht leicht erreichbar sind. Von dieser Überzeugung lässt man sich dann nicht mehr oder nur schwer abbringen. Es hat sich ein gefestigtes Glaubensbekenntnis der Selbstrechtfertigung entwickelt. So viel Überzeugung, Denkarbeit und
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