Miese Stimmung: Eine Streitschrift gegen positives Denken (German Edition)
kann. Gesundheit ist etwas Herstellbares und Optimierbares geworden, worauf ein Anspruch besteht. Niemand darf es versäumen, an ihrer Verbesserung zu arbeiten.
Der Arzt ist daher längst nicht mehr nur der Krankheitsexperte, der, wenn er es denn kann, heilt oder, wenn er es nicht (mehr) kann, den Kranken begleitet. Er ist zum Gesundheitsexperten mutiert, zu einem Gesundheitsproduzenten, der schon längst zum Lebensstilberater und Lebensstilkontrolleur geworden ist. Die Biologie ist nicht mehr Schicksal, sondern Ausgangsmaterial, das verfeinert und verbessert werden muss. Insofern passen der neue Gesundheitsbegriff und auch die neue Rolle des Arztes oder des Gesundheitssystems ganz in die zeitgenössische Vorstellung der hoffnungsvollen, optimistischen Selbstoptimierung. In der Medizin hat, ob man es nun wahrhaben will oder nicht, ein grundlegender Wandel stattgefunden. Das Ziel der Heilung oder Wiederherstellung ( restitutio ad integrum ) ist ersetzt oder zumindest ergänzt worden durch das Ziel der Entwicklung zum Besten ( transformatio ad optimum ). Das Hirndoping ist ein Teil dieses Veränderungsprozesses. Dies nicht zu überdenken ist nicht nur nachlässig, sondern unethisch. Stattdessen unreflektiert das Hirndoping als eine positive Entwicklung zu begrüßen und Ärzten selbstverständlich eine verantwortliche Rolle zuzubilligen oder gar als ein moralisches Korrektiv zu betrachten, ist nicht nur naiv, sondern ethisch problematisch.
Banal ist die immer wieder kolportierte Aussage, dass viele Verbesserungen menschlicher Leistungen, aber auch von Stimmungen und Vorstellungen ohnehin Veränderungen im Gehirn nach sich ziehen und dass das Hirndoping eben nur direkt auf die Funktionen und die Struktur des Gehirns einwirkt. Weniger banal ist dagegen die Schlussfolgerung, dass es daher keinen Unterschied mache, ob die Einwirkungen auf das Gehirn durch Lernen, Erfahrungen, Übungen, Erleben erfolgen oder direkt durch Hirndoping. Dem ist aber keineswegs so. Durch die Anwendung von Hirndoping kann sich die Antwort auf die Frage: »Wer bin ich?« verändern. Menschen können sich durch die Vorstellung davon, wer oder was sie sind, verändern. Hirndoping verändert uns also nicht nur aufgrund der chemischen Einwirkung, sondern noch drastischer und nachhaltiger durch die veränderte Vorstellung, die wir von uns entwickeln.
Wer bin ich? Was soll aus mir werden? Und wie ist die Stimmung?
Genauso, wie Sie bei Kuchenrezepten Mehl, Zucker und Backpulver in den richtigen Mengen verwenden müssen, braucht auch Ihr Gehirn eine ausgewogene chemische Balance, um bestmöglich arbeiten zu können – so erklärt es uns die Werbung für ein Antidepressivum. Und die Werbung für ein anderes verspricht: Z. korrigiert dieses Ungleichgewicht. [186] Wieder ein anderes Antidepressivum ist angeblich einfach nur gut: Die beste Sache, seit es Scheibenbrot gibt. Den Alltag im Griff haben! Schnell, stark, gut verträglich, kraftvoll – ein gutes Langzeitinvestment! Das Leben läuft wieder rund.
Das Gehirn als Teig, der zu einem bekömmlichen Kuchen wird, wenn man die richtige Backmischung verwendet, ihn ordentlich durchknetet und bei der richtigen Temperatur bäckt. Das Gehirn ist ein Ort, in den man investieren soll, ein Motor, der bewirkt, dass das Leben rund läuft, wenn nur der Kraftstoff stimmt: innovativ gemischt und deshalb stark, sanft und gut.
Die Frage »Wer bin ich?« wird hier eindeutig beantwortet: Ich bin nicht nur mein Gehirn, sondern mein Gehirn ist eine Maschine, die so gewartet und für die das Kraftstoffgemisch so gewählt werden muss, dass sie optimal funktioniert. Unzulänglichkeit ist Nachlässigkeit bei der Wartung.
Es ist aber auch nachlässig, wenn Eltern es versäumen, ihre Kinder chemisch »nachzubessern« vor allem dann, wenn es die Nachbarn tun.
Welch eine Veränderung des Bildes von uns selbst, und welch eine Verkennung der Verhältnisse! Unser Medizinstudent in der Biochemieklausur dopt sich wohl kaum wegen eines Ritalin®-Mangels in seinem Gehirn, sondern wegen einer Klausur und eines Medizinunterrichts, die in einer bestimmten Form (Ritalin®bedürftig) konzipiert sind, oder auch, weil das Medizinstudium nicht das ist, was dem Studenten entspricht, oder, oder, oder.
Warum aber sollten wir uns über uns und unsere Lebenssituation Gedanken machen – mit der möglichen Konsequenz, diese zu verlassen oder zu verändern? Das macht ein Motor ja schließlich auch nicht, und ein Kuchenteig denkt auch
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