Miese Stimmung: Eine Streitschrift gegen positives Denken (German Edition)
selten über seine Zukunft als Kuchen nach.
Das Gehirn-Maschinen-Modell bringt seinen Benutzer in ein Dilemma. Es gaukelt ihm unendliche Optimierungsmöglichkeiten seines Gehirns vor, während er gleichzeitig seine begrenzte, weil menschliche Kapazität erfährt. Scheitern und Verlieren sind in diesem Menschenmodell nicht vorgesehen. Miese Stimmung? Selber schuld. Es gibt kein Element des Lebens, dessen Ausführung und dessen Nutzen nicht gesteigert werden könnten. Unterstützung bekommt dieses Maschinen-Modell von neoliberalen Freiheitsfetischisten. Der Ruf der Freiheit ist der Befehl an sich selbst: »Ich kann, weil ich soll.« [187] Die angepriesene Gesellschaft, in der sich diese Freiheit breitmachen soll, ist die, die den Einzelnen zwingt, nützlich und erfolgreich zu sein. »Erfolgsorientierung und Eigenverantwortlichkeit, Wachstum und Wettbewerb … – das sind die unverzichtbaren Grundbegriffe einer ›Agenda Freiheit‹.« [188]
Der auf diese Weise zum Erfolg gezwungene Mensch verkümmert zur Leistungsmaschine, wie umgekehrt die Vorstellung einer Leistungsmaschine den Erfolgszwang nach sich zieht. Menschliche Möglichkeiten – etwa die des Nichtkönnens, des Nichtwollens, des Verweigerns – werden auf Hirnfunktionen und auf das Müssen und Sollen reduziert. Die nicht genutzten Möglichkeiten werden zu einem Defekt der Hirnfunktion, der schnell und effizient behoben werden muss und behoben werden kann.
Aber da Menschen keine Maschinen und erst recht keine Hirnmaschinen sind, führt die Behandlung und Selbstbehandlung als Maschine nicht ins technische Paradies. Die Erschöpfung, das Versagen und die miese Stimmung werden nicht abgeschafft. Im Gegenteil, sie nehmen zu und führen zur sozialen Isolation.
Im Angesicht der Selbstermächtigungs- und Optimierungsforderungen verliert der Scheiternde nicht nur die Anerkennung der anderen, sondern auch das Gefühl für sich selbst. Das Selbstbewusstsein verkümmert zum Selbstzweifel. Die Stimmung ist mies, der Mensch depressiv. Nimmt er den Kampf gegen die miese Stimmung auf und bedient sich dabei des entsprechenden Hilfsangebots, wird der Terror der Selbstoptimierung, des Erfolgs und der guten Stimmung, dem er ausgeliefert war, bestätigt. Die miese Stimmung ist die Stimmung des Nichtgenügens und der Unzulänglichkeit. Die neurotechnischen Erfolgstherapien sind dagegen kein Heilmittel, auch wenn sie es vollmundig versprechen. Sie bringen bestenfalls Krisenmakulatur, Coping und Wartung. Maschinentechnische Verfahren des Hirndopings und medikamentöse Abfederung verdrängen und verhindern den menschlichen Umgang mit Krisen, das Innehalten, das Erinnern und das Trauern. Beim chemischen Stimmungstuning gehorchen selbst diejenigen – und die besonders – den Selbstoptimierungszwängen, die an ihnen schon lange verzweifelt sind.
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Gebrauchsanleitung zur Herstellung von Depressionen
Was sind eigentlich Depressionen?
Depressionen sind heute so weit verbreitet, dass die Alltagssprache den Begriff ganz selbstverständlich benutzt. [189] Doch auch das Selbstverständliche lohnt eine genauere Betrachtung. Das Wort »Depression« leitet sich vom lateinischen deprimere ab, was »herunterdrücken,« »erniedrigen« oder »unterdrücken« meint.
Der Begriff Depression wird in unterschiedlichsten Zusammenhängen benutzt: Alltagssprachlich bezeichnen wir damit einen Zustand, den man salopp mit »null Bock auf gar nichts« umschreiben könnte – einen Zustand von Antriebslosigkeit und Niedergedrücktheit, in dem die Welt nur noch grau erscheint. In der medizinisch-psychiatrischen Fachsprache benennt die Depression eine psychische Störung.
In der Geomorphologie versteht man darunter eine Senke in der Landschaft, in der Ökonomie eine miese Konjunkturphase und in der Meteorologie ein Schlechtwetter- oder Tiefdruckgebiet. Der stillschweigend mitgedachte Gegenpol wäre: die gute Stimmung, der Aufschwung, das Schönwetter- und das Hochdruckgebiet.
In der psychiatrischen Diagnose wird die Depression denn auch als ein Zustand des Mangels definiert, als ein Zustand, der nicht ist, wie er sein soll. In der Depression herrscht eine – negativ bewertete – Soll-Ist-Wert-Differenz.
Menschen, bei denen Depressionen diagnostiziert werden, empfinden Gefühle des Ungenügens, der Minderwertigkeit und Unfähigkeit, wo erwartungsgemäß Gefühle des Genügens, der Vollwertigkeit und Fähigkeit sein sollen, Selbstzweifel und Verlust an Selbstachtung, wo
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